Metropolregion oder Provinz? (05.2008)

Aus der Serie: Kreative, Stadt, Entwicklung │ 2009 Nr.01

Erstmals in der Erdgeschichte leben weltweit mehr Menschen in Städten als am Land. Freilich, Stadt bedeutet dabei nicht mehr nur Gässchen und Platz innerhalb einer Stadtmauer sondern ist eine urbane Agglomeration mit allem was wir heute kennen: Favela oder abgegrenztes Luxusviertel, Plattenbau oder Shoppingcenter, Fußgängerzone in der Innenstadt oder zahllose Einfamilienhäuser entlang der Ausfahrtsstrassen. Und das ist auch in Graz so, wo die Stadt längst nicht mehr an der Gemeindegrenze aufhört. Der Zentralraum Graz und Umgebung wird von einem Drittel der steirischen Gesamtbevölkerung bewohnt. Tendenz stark steigend übrigens. Und egal ob die Stadt als Ort der Freiheit oder als lärmender Moloch durch Literatur, Kino oder Kunst in unseren Köpfen verankert wurde, die Stadt ist vor allem eines: Unser aller Umwelt, der ganz konkrete Lebensraum der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, der Kinder und der Alten, der Leisen und der Lauten, der Sportlichen und Gehandicapten, der Altruisten und der Egoisten. Da aber letztendlich alle diese Individuen zusammen, als „Communitas“, das Wohl und Bild, das Fortkommen, die Lebensqualitäten der Stadt beeinflussen, wollen wir diesem Thema ab nun eine eigene Kolumne widmen. Themen wie Wohnen oder Verkehr, der öffentliche Raum und die Stadtgestalt, Ökologie und Ökonomie oder Kunst und Kultur werden wir kritisch betrachten und beleuchten lassen, wenn sie die Entwicklung unserer Stadt, nämlich Graz betreffen. Geschichte, Daten und Fakten, aber auch Blicke über den eigenen Tellerrand hinaus erläutern diese Themen. Konkrete Anlässe und die Rolle der verantwortlichen Politik und Verwaltung werden nicht zu kurz kommen. Letztendlich bestimmen das Nutzen oder das Verhindern von Potentialen und Chancen unseren zukünftigen Lebensraum, also das Graz für uns alle.

Schreiben wird diese Kolumne jemand, der es wissen muss, nämlich Harald Saiko. Nicht nur ist er in Graz geboren und aufgewachsen, sozialisiert und studiert. Als freiberuflicher Architekt und Stadtplaner ist er ausgewiesener Experte zum Thema Stadtentwicklung in Graz. Das Innere von Politik und Verwaltung kennt er gut, nicht nur als Mitverantwortlicher wesentlicher Projekte im öffentlichen Interesse, wie etwa für die Stadtteilentwicklung GrazWest. Als engagierter Aktivist wirkt er seit über 15 Jahren in der öffentlichen Debatte, egal ob als ehemaliger Präsident des Hauses der Architektur oder aktuell als Kulturbeirat der Stadt Graz. Den Blick über den Tellerrand kennt er trotzdem gut. Neben Studienaufenthalt und Praxiszeit in Paris ist er mit seinem Büro für Architektur, Stadt und Kultur in den letzten Jahren auch in Wien und neuerdings Osteuropa tätig. Als Vorstand der Architekturstiftung Österreich kennt er die Lage der Baukultur über die Grenzen hinweg.
Bei der Vorbereitung und Recherche der Themen wird er von Mara Verlic assistiert, die ebenso in Graz geboren und aufgewachsen ist. Mara Verlic ist nicht nur angehende Soziologin mit Schwerpunkt Stadt sondern auch engagierte Mitarbeiterin bei kulturellen und künstlerischen Produktionen in Graz.

Metropolregion oder Provinz?

Diese Frage stellt sich heute oft, angesichts der wachsenden Städte auf der einen Seite und den Verlieren beim Rennen um den angeblich besten Standort. In Graz scheint dieser Identitätsstreit außerdem in der DNA der Stadt eingeschrieben zu sein: zwischen historischer Hauptstadt der Habsburger und Pensionopolis am Ende der Monarchie, zwischen abgelegener Kleinstadt am eisernen Vorhang und plötzlich zentraler Lage im aufstrebenden Südosteuropa, zwischen kleingeistiger Lethargie und immer wieder virulenter zeitgenössischer Kunst- und Architekturszene.
Und diese Frage stellt sich nicht nur in realitas, in der gebauten Umwelt. Auch in den Köpfen der Menschen herrscht Metropole oder Provinz: Können wir uns nur vorstellen, was immer schon war oder haben wir eine Vorstellung von unserer Zukunft in der Stadt? Sind wir fähig diese zu formulieren, uns auf diese zu einigen, die gemeinsamen Zukunft auch zu realisieren? Und das in vielen kleinen Schritten, die oft 10, 20 oder mehr Jahre benötigen um sichtbar zu werden? Wie einst unsere so geliebten historischen Altstädte das Ergebnis vieler Jahrzehnte gemeinsamer Anstrengungen waren? Sie sind natürlich nicht an jenen einzelnen Datumsjahren geboren worden, die unsere Geschichtsverbildung in den Köpfen hinterließen. Aber auch die heutige urbane Agglomeration um die Stadt, die Zersiedelung immer weiter in das Umland hinaus, ist ein Ergebnis unserer Vorstellungen – allerdings sehr individueller! Egal ob mit der Wohnform Einfamilienhaus oder den Shoppingcenters, Gewerbehallen und neuerdings auch Büro und sogar Kulturfunktionen: Als Summe meist partikularer Interessen wurde diese neue Form der Stadt gemeinsam über Jahre hinweg „gebaut“ und gefördert oder zumindest geduldet und mitgenutzt. Alle logischen Bedingungen wie die Abhängigkeit vom Automobil, den folgenden Pendlerströmen und den verbundenen Lärm- und Feinstaubbelastungen sind seit Beginn dieser Mobilität inhärent und nicht überraschend.
Was allen Epochen gleich bleibt, ist Stadt als ein System, das aus der Wechselwirkung von gebauter Struktur und gelebter Urbanität entsteht. Die Baukultur einer Stadt ist einerseits das Substrat aus dem Leben der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart. Andererseits dirigiert das bauliche Gefüge einer Stadt, wenn es erst einmal geschaffen ist, das Leben ihrer Bewohner in der Gegenwart und weit in die Zukunft. Mit den zersiedelten, letztendlich oft trostlosen Gebieten rund um die Stadt werden wir nun wohl noch etliche Zeit leben müssen. Und: Die untrennbare Verknüpfung der städtischen Architektur, des öffentlichen Raumes, der Verkehrsverbindungen mit dem Leben der Menschen macht es möglich, im gebauten Bild einer Stadt auch etwas über das Lebensgefühl ihrer Bewohner zu lesen. Jeder erkennt Venedig oder Paris auf einer Postkarte und hat wohl auch eine Emotion dazu. Und jeder kennt die Facetten, Eigenarten und Widersprüche in Graz: Man betrachte etwa das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Uhrturm und Kunsthaus um das beliebteste Wahrzeichen. Vordergründig eine Frage nach touristischen Attraktionen, ist es hintergründig wohl Identifikationsfläche für die Grazer selbst. Das Nebeneinander oder Gegeneinander von Traditionellem und Zeitgenössischem, wobei die Architektur des „zeitgenössischen“ Kunsthauses aus den unerfüllten Utopien der 60er entlehnt ist, samt seinem sich selbst so stilisierenden Architekten Peter Cook – Ironie des Schicksals?
Nicht anders in der Kulturpolitik selbst. Hier steht die Betonung der großen künstlerischen Vergangenheit der Stadt und deren touristische Selbststilisierung als Kultur(haupt)stadt zunehmend im Widerspruch zur Unfähigkeit, den einfachsten Ansprüchen einer Gegenwart gerecht zu werden. Man denke etwa an den sich über Jahre ziehenden Standortkampf zur Rettung des kleinen aber einzigen Grazer Programmkinos. Die Eliminierung wurde von der Politik wissentlich verdrängt, bis der Abriss des Hauses von der Politik selbst unterschrieben wurde. Dies fügt sich in eine Reihe von mehr als unglücklichen cineastischen Verlusten: die Thalia, von der Stadt in den 90ern sich selbst überlassen, das Opernkino, dem Land angeboten und von diesem fahrlässig vergessen. Aber was wäre Paris ohne Kinos, was wäre eine Stadt ohne Kinos in der Stadt? Ob dies beim Händeschütteln anlässlich der Diagonale-Eröffnung ein Thema war?

Aber nicht nur einzelne Zutaten machen den feinen Cocktail einer urbanen Stadt würzig. So ist es in einer Stadt wie Graz möglich, dass die einmalige Chance zur Schaffung eines blühenden urbanen Gebietes zum Sumpf der Partikularinteressen und Parteienpolemiken vergeigt wird, wie etwa auf dem Areale der Grazer Messe. Wenn auch der langjährige Streit um die Absiedlung eines einzigen widerständigen Pizzeriabesitzers nicht der wahre Grund der Blockade ist, so mag es doch symbolträchtige Anekdote sein. Und dass letztendlich sicher irgend etwas dort gebaut wird, vielleicht sogar einmal sehr groß und sehr viel, mag die Politik nicht für sich ins Treffen führen. Dafür ist sie nämlich nicht zuständig, zumal der Verkauf der Grundstücke offensichtlich mehr Zwang als freier Wille war. Fürs Entwickeln und Bauen zuständig sind nämlich heutzutage die Investoren und mit Verlustverbot ausgestatteten Gesellschaften. Zuständig wäre Politik und Verwaltung, die entsprechenden öffentlichen Interessen zu klären, vorzubereiten und dann dauerhaft aber für Investoren wirtschaftlich verträglich einzubringen: Öffentlicher urbaner Raum und Grünraum in zeitgemäßer Gestaltungsqualität etwa, Durchlässigkeit für Fuß- und Radwege zu sichern oder eine urbane, qualitätvolle Architektur in diesem Herzen der Stadt, damit die internationale Architekturreputation von Graz auch in Zukunft glaubhaft bleibt. Und ganz sicher wäre es auch hehre Aufgabe von Politik und Verwaltung, diese Ziele vor individuellen, einzelnen Nachbarschaftsprivilegien zu schützen, die nur allzu oft laut schreiend als vorgebliches Bürgerinteresse daherkommen. Ja, das wäre was gewesen, so ein Stadtteil für Menschen und ihr Treiben gleichermaßen! Ein Menüplan aus coolen Bürotürmen und belebten Plätzen, aus urbanen Wohnungen für Arm und Reich und grünen Inseln für die Kids. Genannt in einem Atemzug mit Hafencity Hamburg, der Diagonal Mar in Barcelona, oder dem neuen Pariser Trendviertel Bercy rund um die Bibliothèque de France. Alle Zutaten waren schon da, allein, zu viele – selbsternannte - Köche verderben den Brei zum Allerlei.
 
Eine Stadt ist also niemals statisch, sondern immer in Bewegung. So wie gesellschaftliche Innovationen zunächst meist im urbanen Raum passieren, wäre die Stadt auch gut beraten, bei ihrer eigenen Entwicklung innovativ und stark zu sein. Stadtentwicklung ist längst nicht mehr direktive „paternalistische“ Methode einer Stadtplanung von oben herab. Demgegenüber wird auch der Rückzug auf die Moderation der gegenüberstehenden Bürgerinteressen, quasi eine Metabasisdemokratie, schlichtweg nicht umsetzbar sein, wenn man auch noch soviel Zeit für Graz aufbringt. Von der Qualität der insofern immer in der Mitte liegenden Ergebnisse als Kompromisse sei hier ganz zu schweigen.
Ein kreativer Prozess der besten Köpfe durch kommunale Arbeit an konkreten Projekten und klaren Zielsetzungen wäre da schon eher was. Und strukturierte Bürgerbeteiligung spricht nicht dagegen, wenn nämlich soviel wie sinnvoll und auch integrierbar und so wenig wie notwendig partizipiert wird. Bürgerbeteiligung als Christkindlprinzip der Wunschäußerung weckt nur Begehrlichkeiten, die doch keine Politik erfüllen kann.
Dass dieser Ansatz weit von der real herrschenden Situation der Stadtpolitik entfernt ist, liegt leider auf der Hand: Die in einzelne Sparten geteilte Bürokratie versperrt Kreativität und neuen Wegen den Weg, teils aus eigenem Antrieb der Angst teils als Gefangene in einem Korsett der stetigen Fortführung des schon Bekannten und somit Sicheren, Bewährten. Strukturelle Änderungen intern sind kaum möglich, da parteipolitische Entscheidungen fast nie zur Besetzung der besten Köpfe in Abteilungen und ausgelagerten Gesellschaften führen, sondern eher zur Suche nach den „richtigen“ Personen. Manche mögen diese Strategie als „eigentümerfreundlich“ bezeichnen, doch ob sie das auf Dauer wirklich ist, bliebe zu bezweifeln. Der zeitliche Rahmen einer Legislaturperiode verhindert das Arbeiten mit realistischen Zielsetzungen sowieso, welche gerade im Prozess der Stadtwerdung oft weit darüber hinausreichen. Eine zunehmende „Konsumentokratie“ nämlich jedem Einzelnen alles recht getan, als Kunst die nur der Politiker kann, verhindert den Rest. Wo bleibt hier das Verständnis einer Polis, wo freie Bürgerinnen und Bürger über das Wohl der Stadt beraten und entscheiden und ihre repräsentativ gewählten Vertreter und Vertreterinnen mit den Aufgaben für die Zukunft betrauen, im besten Sinne des Wortes?
Was liegt also näher, eine neue Periode mit neuer Stadtregierung und Opposition in unserer Polis als Anlass zu nehmen, um das ständige sichtbare und unsichtbare Werden einer Stadt, nämlich Graz zu begleiten? Mit sicherem Abstand zur Politik, aber in unmittelbarer Nähe zur Stadt werden wir an dieser Stelle monatlich Aspekte der Stadtentwicklung kritisch aber konstruktiv lesbar machen. Dabei müssen es nicht nur die stadtplanerischen Hot Spots sein, die das neue Regierungsprogramm verspricht, aber interessant sein können sie allemal.
So sieht die neue Stadtregierung ihre größte planerische Herausforderung etwa in einem Projekt, das nicht nur seit bald 20 Jahren weithin sichtbar brach gelegen ist. Vielmehr wurde die öffentliche Aufmerksamkeit als man sie gebraucht hätte immer nur halbherzig gegeben oder nach Ersterfolgen wie dem Projekt Graz-West schnurstracks wieder vergessen. Aber akkurat jetzt, wo das Gebiet von einem scheinbar sehr aktiven, innovativen Stadtteilentwickler namens Asset One langfristig und integrativ in Angriff genommen wurde, soll auf den Reininghausgründen eine Ökostadt entstehen! Sehr gut! Aber wie wird man diese „Entscheidung“ dem Privateigentümer schmackhaft machen? Oder was ist, wenn er ganz allein und selbst drauf kommt – war es dann ein Erfolg des Regierungsprogramms?
An anderer Stelle wird die Errichtung von 500 Gemeindewohnungen angekündigt! Sehr gut! Aber wo werden diese gebaut, wie werden sie entwickelt, entworfen, realisiert? Wie betreibt eine Stadt derart verantwortungsvolle und wirtschaftlich höchst anspruchsvolle Projektentwicklung, und um nichts anderes geht es hier, wenn Graz bei den eigenen Immobilienprojekten der letzten Zeit nicht gerade goldene Händchen hatte – siehe eben beispielsweise die Messe oder auch die endlose Geschichte der Thalia? Die Heilsbotschaft als gefährliche Drohung?
Auch die Kreativwirtschaft wird als eines von vier Stärkefeldern der Grazer Wirtschaft betitelt, die daher künftig kräftiger am Förderungskuchen mitschneiden wird und extra unterstützt werden soll. Etwa durch die mit einem operativen Budget gestärkte Creative Industries Styria Netzwerkagentur, kurz CIS, die nach Anfrage aber angeblich keine Fördergelder zu vergeben hat. Wie jetzt? Welche Netzwerke werden hier geflochten? Und was hat die abseits öffentlichen Förderns und Rauschens und Stärkens schon bestehende und munter werkende Kreativwirtschaftsszene rund um Mariahilferstraße und Lendplatz dann davon, die den Stadtraum dort schon spürbar und sicher positiv verändert?
Neue Wege und Möglichkeiten der Stadtentwicklung geht uns also alle an. Und eines noch am Schluss, liebe Vertreter aus Stadt und Land, liebe Leserinnen und Leser, wenn wir auch die praktische Arbeit in Graz kritisch und konstruktiv, mit Blick in andere Städte kontrastreich und kreativ darstellen wollen: Keine Angst, wenn wir sagen werden was Sache ist! Wir wohnen und leben in dieser Stadt, wir arbeiten und produzieren in dieser Stadt, mit einem Wort: WIR lieben diese Stadt!

(HS/MV im Mai 2008)

 

Harald Saiko
in Korso – stadtFORUM, Fünfzehnmal Stadt, Juni 2009
aus der Serie: Kreative, Stadt, Entwicklung │ 2009 Nr.01


Architekt DI Harald Saiko

Geboren und aufgewachsen in Graz. Architekturstudium in Graz und Paris.
Mit 32 Jahren staatlich befugter und beeideter Ziviltechniker und seither als freischaffender Architekt und Stadtentwickler tätig. Gründer von SAIKO.CC - Büro für Architektur . Stadt . Kultur in Graz mit Filiale in Wien. Seit 2007 Expansion nach Osteuropa mit einer Bürofiliale in Timisoara / Rumänien. Realisierungen von Architekturprojekten sowie verantwortliche Mitarbeit bei wesentlichen Entwicklungsbereichen in Graz wie Stadtteilentwicklung Graz-West, Natur-Erlebnis-Park Plabutsch oder Stadtteilentwicklung Messequadrant.
Lehraufträge an der TU-Graz, Forschung, eigene Publikationen und Vortragstätigkeit über Architektur und Stadtentwicklung. Verantwortliche Funktionen in Architekturinstitutionen und Kulturpolitik.



Mara Verlic

Geboren und aufgewachsen in Graz. Studium der Soziologie mit Schwerpunkt Stadt. Freie Mitarbeit sowohl in den Bereichen Kunst und Kultur als auch in der Stadtsoziologie in Graz

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