Alte Ansichten oder Schritt in die Zukunft?

Projekt Korso Artikel
Thema. Alte Ansichten oder Schritt in die Zukunft
Inhalt. Ausstellung „Alte Ansichten – Stadtvisionen des 20. Jhdts.“
Datum. 2002
Verfasser. Harald Saiko, Präsident des Grazer Hauses der Architektur, ist der Autor des Einstiegs-Beitrags der KORSO-Serie zur Stadtentwicklung. Mit dieser Serie will KORSO dazu beitragen, dass die derzeitige Phase des laisser faire – letztendlich das Einfallstor für die Durchsetzung der Interessen des jeweils Stärkeren und Lauteren – ein Ende findet und durch bewusste, gesellschaftlich abgestimmte Stadtentwicklung abgelöst wird.

Alte Ansichten oder Schritt in die Zukunft? von Harald Saiko.

„Alte Ansichten – Stadtvisionen des 20. Jhdts.“ nennt sich die Programmausstellung im Haus der Architektur in Graz, welche in einer überblicksartigen Bestandsaufnahme die Entwicklungslinien dieser Stadt nach 1945 aufzeigt. Unter dem Motto europe.cc / changing cities wird im HDA 2002/03 der permanente Veränderungsprozess unserer Städte thematisiert und am Beispiel Graz der Ausgangspunkt gesucht.

Obwohl mit aktuell ca. 227.000 Einwohnern im Stadtgebiet sowie weiteren 131.000 Bewohnern in der Grazer Umgebung keine Metropole, so weist Graz doch fast alle wesentlichen Merkmale einer „europäischen“ Stadt auf. Urkundlich erstmals 1128 erwähnt kam Graz im Laufe der folgenden neun Jahrhunderte sogar einmal zur Ehre Residenzstadt eines Kaisers zu sein. Außerdem wurde Graz zur Universitätsstadt, bekam es mit Napoleon wie auch Erzherzog Johann zu tun und wurde in populärerer Form wiederum Residenzstadt einer Monarchie, die Bezeichnung Pensionopolis zeugt heute noch davon.

Was als Höhepunkte einer regionalen Geschichte gern aufgezählt wird, sind freilich Symbole, die zur regionalen Identität beitragen und Eckpunkte einer kollektiven Erinnerung sind. Diese Erinnerungen werden durch vielfach transformierte Überlieferungen und Darstellungen konstituiert und können daher nur sehr subjektiv sein.

Demgegenüber steht die „Stadt“ als weit objektiverer Zeitzeuge anhand der Spuren und Abdrücke, die die Ereignisse der Geschichte hinterlassen. Naturgemäß ebenso durch Gebrauch, Umbau und neue Nutzungen transformiert, haben Elemente der Stadt durch ihre Schwerfälligkeit aber eine ungleich hartnäckigere Konsistenz und bleiben über Jahrhunderte Abbild ihrer jeweiligen Zeit.

Die europäische Stadt: Eine permanent neu generierte Lebens-Umwelt
Müßig ist es, das gebaute Mittelalter oder die Juwelen der Renaissance in der inneren Stadt zu nennen, welche als kulturelles Erbe das Zentrum von Graz prägen und immer noch eine attraktive Bühne für völlig geänderte Lebens- und Arbeitsabläufe bilden. Die napoleonische Schleifung der historischen Festungsanlage veranlasste erst die „künstliche“ Anlage eines Parks, der den vormaligen Hügel aus Geröll zu jenem grünen Schlossberg macht, den wir heute schätzen (und schützen). Der so genannten Gründerzeit verdanken wir beliebte Wohnviertel und auch hier musste viel „Historisches“ weichen, um diesem ausgedehnten Neubaugebiet Platz zu machen, das von durchaus geschäftstüchtigen „Developpern“ der damaligen Zeit in nur wenigen Jahrzehnten hochgezogen wurde. Anderes Beispiel: Im graztypischen West-Ost-Gefälle wenig beachtet sind die geduckten, kleinteiligen Ensembles der Murvorstadt Zeugen eines etwas anderen sozialen Gefüges der „guten alten Zeit“.

Immer schon also war der Wandel der Gesellschaft und ihres politischen und wirtschaftlichen Systems sowohl Anlass wie Triebfeder des Um-Wandelns der Stadt. Dies ist untrennbar mit der europäischen Stadt und ihrer Geschichte verbunden und ist auch Nährboden Ihrer Urbanität: Die Vielfalt der Schönheiten und Kehrseiten, der Möglichkeiten und Konflikte, der Anonymitäten und Öffentlichkeiten generiert die europäische Stadt nicht nur als gebautes steinernes Meer, sondern auch als urbane Lebens-Umwelt permanent neu.

Dies wird allerdings nur dann positiv gesehen solange der Wandel bereits Vergangenheit ist. Folgerichtig wird in unseren Breiten „Stadt“ als Terminologie aber auch als Lebensgefühl untrennbar mit jenem „historischen“ Bereich verbunden, dessen Teile weitgehend vor der Zeit der Umbrüche ab 1914 entstanden sind. Doch welches Abbild unserer Zeit wird unsere Gesellschaft hinterlassen oder anders gefragt: Welche urbane Lebensform generiert unsere Gesellschaft als ihre eigene Umwelt? Was, wenn wir die Zeit nach 1945 in der gesamtgeschichtlichen Entwicklung als unser politisch und wirtschaftlich durchgängiges Zeitalter betrachten und einer neutralen Recherche unterziehen, wie es in der Ausstellung „Alte Ansichten“ geschieht?

Die erste Phase unmittelbar nach dem Krieg lässt sich mit „Die offene Stadt“ betiteln: Die neue Suche nach Licht, Luft und Freiheit einerseits und die große Aufgabe der Bewältigung der Grundbedürfnisse für alle Bewohner des Ballungsraumes spiegeln sich hier wider. Doch allzu umfassend sind die Planungen und mit den beschränkten Mitteln der damaligen Zeit nicht umzusetzen. Ein Beispiel stark verändernd wirkender Erscheinungen im Stadtgefüge taucht in den 50ern auf: Es mehrt sich der für Graz neue Typus des „Hochhauses“. So wie das von Prof. Karl Raimund Lorenz entworfene „Elisabethhochhaus“ (trotz hitziger Diskussionen) von 1962-64 realisiert werden konnte, wurden rund 200 (!) weitere Hochhäuser auf Grazer Stadtgebiet errichtet.

Der Schritt in die Zukunft? Das letzte paternalistische Konzept
Unter dem Titel „Architektur und Freiheit“ können in den späten 60ern die Ausdrucksformen der Stadt für die Neuerungen der Gesellschaft subsumiert werden, bis schließlich in den 70ern die bis dato scheinbar lineare Fortschrittlichkeit durch die Gesellschaft hinterfragt wird: Die räumlichen Konflikte vielerorts, beginnend mit der Eggenberger Autobahntrasse, mobilisieren die Bürger und Bürgerinnen und tragen Graz den Ruf der „Stadt der Bürgerinitiativen“ ein. Unter dem Würgegriff des Autoverkehrs wird die als selbstverständlich benutzte Altstadt zu neuem Leben erweckt. Den Höhepunkt dieser Phase bildet folgerichtig ein aus diesen Strömungen entwickeltes politisches Konzept, das auch umsetzbar wurde: Unter dem Titel „Platz für Menschen“ wurde 1986 von Erich Edegger ein Konzept vorgestellt „das vorsieht, sämtliche öffentliche Flächen zunächst innerhalb der mittelalterlichen Ringmauern der Altstadt und dann Schritt für Schritt in weiteren Teilen des historischen Zentrums einer dem jeweiligen Bereich angemessenen fußgängerfreundlichen Gestaltung zuzuführen.“

Wenn auch heute noch öffentliche Räume wie etwa Hauptplatz oder Karmeliterplatz im Zentrum der Stadt gestaltet werden, so muss man dies als Folgewirkung dieses vielleicht letzten konsistenten politischen Konzeptes im Bereich der Stadtgestaltung anerkennen. Aber seither? Und außerdem: Auch bei Betrachtung der aufgezählten Phänomene seit 1945 verlassen wir kaum jenen Raum, der wie schon festgestellt in unseren Breiten als „Stadt“ untrennbar mit dem historischen Bereich verbunden ist.

Doch kann diese eingeschränkte Sichtweise aufrechterhalten werden angesichts der Tatsache, dass im Zeitraum der letzten 20 Jahre die Einwohnerzahl der Stadt Graz kontinuierlich sinkt, gleichzeitig aber in der Umgebung rasant ansteigt

Die Stadt der Netzwerke
Nimmt man die Stadt als urbane Lebensform an und folgt den Spuren der Menschen und ihres täglichen Lebens, der Einbindung der Häuser, der Straßen, der Infrastrukturen, also dem Beziehungsgeflecht von Urbanität, so wird der bis jetzt gültige Begriff Stadt fragwürdig. Wie wir es in Graz und Graz-Umgebung gut beobachten können, entsteht eine neue, viel größere Stadt: die vertraute Stadt der Einfamilienhäuser, der Einkaufscenter, der Hallen der Gewerbeparks und Fitnesscenter, der Autohändler und Baumärkte. Diese neue Stadt ist weder städtisch noch ländlich – sie besitzt alle diese Elemente gleichzeitig! Die 90er-Jahre werden in der Ausstellung „Alte Ansichten“ als Zeit der Netzwerke tituliert und signalisieren diesen Schritt bereits. Erste vernetzte Programme wie zum Beispiel im Grazer Westen versuchen die steigende Komplexität verschiedener Interessen und Gruppen sowie die geänderten Möglichkeiten von Steuerung der Entwicklung innovativ zu integrieren. Sie weisen aber vor allem in die Richtung, auch die Bereiche außerhalb des Zentrums als Stadtraum wahrzunehmen und als solchen zu betreuen und lebenswert zu machen. Das Programm europe.cc / changing cities im HDA 2002/03 geht von der Annahme aus, dass anhand der gängigen Sichtweisen über Stadt und Land das Phänomen der europäischen Stadt in ihrer Veränderung nicht mehr ausreichend erklärt werden kann und daher auch entsprechend wirksame Steuerungen zur Erzielung eines nachhaltigen Lebensraumes neu formuliert werden müssen. Dies soll keine Forderung an bestehende (politische) Verantwortlichkeiten sein, sondern bedeutet vielmehr einen gemeinsamen kulturellen Lernprozess aller gesellschaftlichen Gruppen und ihrer Vertretungen. In diesem Sinne wird auch unsere Gesellschaft jenes Abbild unserer Zeit in der Zukunft hinterlassen, welches wir selbst als unsere gegenwärtige Lebensform wählen und als Umwelt gestalten. Für den notwendigen, differenzierten Diskurs über den längst anstehenden Prozess einer nachhaltigen Stadtentwicklung sollen sowohl das Programm des Hauses der Architektur wie auch dieser erste Artikel einer Serie Anstoß geben.

Arch. Dipl. Ing. Harald Saiko
Geb. 1967, Studium der Architektur in Graz und Paris. Lehre, Forschung und Publikationen in den Bereichen Architektur und Urbanismus, seit 1999 eigenes Büro für Architektur und Stadtentwicklung sowie Infrastruktur und Landschaftsplanung. Weiters Tätigkeiten im Bereich Ausstellungskonzeption und Kulturmanagement sowie Engagements u.a. als Vorstandsmitglied und Präsident im HDA Graz und in der Stifterversammlung der Architekturstiftung Österreich.

Die Ausstellung „Alte Ansichten – Stadtvisionen des 20. Jhdts.“ war bis 5.12.2002 im HDA, Engelgasse 3-5, 8010 Graz zu sehen. 

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