100%Stadt- Eine Neudefinition der europäischen Stadt


Sollten vielleicht sämtliche modernen Städte eigentlich unsichtbar sein – und was sichtbar an ihnen ist, ist bloß die Nachlaßgarderobe? Das wäre eine tolle Sache.
Alfred Döblin, 1928

 

Die tiefgreifende Transformation der europäischen Stadt in den letzten 20 Jahren aufgrund veränderter ökonomischer und politischer Bedingungen fordert eine dringend notwendige Auseinandersetzung über die Perspektive der Stadtentwicklung in Europa. Was ist die spezifische Form der Urbanisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts und mit welchen Forschungsmethoden und Entwurfsstrategien kann sie analysiert und gestaltet werden?

Der Prozess der Urbanisierung in Europa lässt sich in drei Phasen aufteilen: in die erste Phase der Ausbildung des europäischen Städtesystems mit seiner klaren Unterscheidung von Stadt und Land; einer zweiten Phase, die im ausgehenden 18. Jahrhundert ansetzt und ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat – die Phase der Industrialisierung, die das traditionelle Städtewesen überformt, neue Städte und Stadtgebilde schafft, auf das Land vordringt; und in eine dritte Phase, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts beginnt, die mit Begriffen wie „Suburbanisierung“, „Desurbaniserung“ beschrieben und durch Begriffe wie „Zwischenstadt“ oder „Regionalstadt“ typologisch erfasst werden soll – der Prozess der wechselseitigen Durchdringung von Stadt und Land, der in der seit der industriellen Revolution konstant anhaltenden Zersiedelung gründet und seine wesentlichen Faktoren in dem ständig zunehmenden Individualverkehr und einer immer leistungsfähigeren Transport- und Kommunikationstechnologie hat, die eine städtische Lebensweise außerhalb der Stadt ermöglicht. In manchen Ländern setzt die einzelnen Phasen früher, in anderen später ein, auch dürften qualitative Unterschiede bestehen, wenn man den Prozess des Städtewachstums von der Ausbildung einer spezifischen städtischen Lebensform begleitet sieht – die Verstädterung ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Herausbildung von Urbanität. Der vorliegende Band konzentriert sich auf die Entwicklung in Österreich, Deutschland und der Schweiz.

Die seit den 60er Jahren stattfindende Urbanisierung lässt sich durch sechs Merkmale charakterisieren, wie der Historiker Jürgen Reulecke am Beispiel Deutschland ausführt.[1] Erstens: Eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis dieses Prozesses ist, dass die Zunahme der Bevölkerungsdichte nach dem 1. Weltkrieg nicht durch das starke Wachstum der Industrieagglomerationen, sondern vielmehr durch die Auffüllung von Räumen, die bisher im Industrialisierungsverlauf zurückstanden, bewirkt wurde. Zweitens: Die urbane Lebensform hat immer stärker auf das Land übergegriffen; die Voraussetzung bildete die Ausbreitung der Massenkommunikationsmittel, der Ausbau des Nahverkehrssystems und die Ausbreitung des Individualverkehrs sowie das flächendeckende Angebot massenhaft produzierter Konsumartikel. Drittens: Das „posturbane“ Siedlungswachstum ist gekennzeichnet durch die Mechanismen und Erscheinungsformen der Segregation, der inneren Ausdifferenzierung nach kulturellen, ethnischen u. ä. Besonderheiten – die Gründe dafür sind nicht nur ökonomischer Natur, sondern zutiefst irrational und eher psychologisch zu deuten. Viertens: Die Aufspaltung in eine Arbeits- und Freizeitwelt – mit der Zunahme der arbeitsfreien Zeit wuchs die Bedeutung spezifischer Freizeiträume, die nicht in der Stadt liegen; selbst abgeschiedene Orte konnten sich aufgrund ihres „Freizeitwerts“ zu mittelgroßen Städten mit moderner Infrastruktur entwickeln. Fünftens: Die auf der „Charta von Athen“ basierende Funktionsentmischung der Innenstädte, die den Nachkriegsstädtebau bestimmte, hat die zentrifugale Ausrichtung der städtischen Entwicklung beschleunigt und zu einer Funktionsentleerung der Innenstädte geführt, zugleich hat der ursprüngliche suburbane Ergänzungsraum eigenständige Zentren ausgebildet. Sechstens: Der Funktionswandel eines großen Teils der kommunalen Wirtschaftstätigkeit, die ursprünglich der Daseinsvorsorge diente - diese hat ihren gemeindlich-genossenschaftlichen Charakter verloren. Der Zusammenschluss der Eigenbetriebe benachbarter Städte oder ganzer Regionen in gemischtwirtschaftlichen Unternehmen mit kommunalen wie privaten Anteilseignern entzieht sich der Kontrollierbarkeit durch die Bürger und hat seine integrative Funktion verloren.

Im derzeitigen Urbanisierungsprozess lassen sich vier Mechanismen identifizieren, die das Ende der industriell geprägten Stadtstruktur und eine neue Art der gesellschaftlichen Produktion von Raum bewirken, wie der Stadtsoziologe Walter Prigge ausführt.[2] 

Dies ist die Fragmentierung des Stadtraums, der sich in lokal, regional und international bezogene Teile der Stadt aufteilt und zu einer komplexen Überlagerung unterschiedlicher Räume führt. Zugleich werden innerstädtische Fragmente zu privilegierten Erlebnisräumen für Konsum, Freizeit und Tourismus ausbildet. Ein Ablauf, der der Logik der ökonomisierten Standortpolitik folgt und mit der Privatisierung öffentlicher Räume einhergeht, durch die wiederum die sozialräumliche Hierarchisierung verstärkt wird. Neben der Fragmentierung des Stadtraums ist es die Individualisierung, die Wahlmöglichkeit individueller Lebensstile, die tradierte soziale Bindungen auflöst und zu räumlicher Absonderung in stilistischer Distanzierung zu Anderen führt, mit dem Ergebnis des Ausschlusses marginalisierter Gruppen. Hinzu kommt die Mediatisierung, die im Widerspruch zu den neuen Grenzen im städtischen und sozialen Raum die städtischen Kulturen entgrenzt. Die kulturellen Milieus werden durch die mediale Vermittlung räumlich und zeitlich entortet und entgrenzen damit die differenzierte städtische Kultur zur tendenziell einheitlichen Weltkultur. Die Überlagerung von virtuellen und städtischen Räumen entwertet auch die symbolisch-integrative Funktion traditioneller städtischer Elemente wie Haus, Block, Straße, Platz. Als letztes ist es die Suburbanisierung, die Transformation der Stadt in Region und Landschaft. Es entsteht ein Ort des Übergangs von der Industrie- zu einer Stadtlandschaft neuen Typs, eine polyzentrisch transformierte regionale Raumstruktur, für die die Begriffe Stadt, Rand, Land, Zentrum und Peripherie allein nicht mehr taugen.

Folgt man diesen Überlegungen, so hat dies weitreichende Konsequenzen für ein Verständnis der zeitgenössischen Stadt und fordert die raumanalysierenden und raumprogrammierenden Disziplinen heraus, ihre Begriffe und Methoden zu prüfen. Nach der Erkenntnis, dass sich die weitgehend entgrenzten urbanen Gefüge der Agglomerationsräume der traditionellen Vorstellung von „europäischer Stadt“ entziehen, stellen sich folgende Fragen: Kann die zeitgenössische urbane Form geplant werden oder wird sie von unsichtbaren und unberechenbaren Kräften gestaltet? Wird „Stadt“ allgegenwärtig und überall sein; erreicht sie eine neue Qualität von Künstlichkeit? Hat sich die Architektur dem Diktat des Bildes zu beugen, Stadtentwicklung zum Marketing zu werden? Existieren Städte auch ohne Bild, oder erzwingen sie Ersatzbilder, Architekturen der Sehnsucht, emotionale Stadtkonstruktionen ohne Geschichte? Was sind die Formen und Bilder, die der Komplexität der zeitgenössischen Stadt entsprechen? Muss die Stadt als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Integration neu erfunden und gestaltet werden?

Mit diesen Fragen wurden die Referenten zweier Symposien im Haus der Architektur konfrontiert. Die Antworten sind verschieden, auch kontrovers ausgefallen. Gälte es dennoch einige gemeinsame Schlussfolgerungen zu ziehen, dann bestünden sie eher in ähnlichen Einschätzungen der Voraussetzungen urbaner Entwicklungen, insbesondere von Urbanität, die im gegenständlichen wie im virtuellen Sinn keine Grenzen mehr kennt:

 

1. Von Infrastrukturen und Bauten werden heute schnelle Anpassungsmöglichkeiten erfordert. In Japan gibt es bereits einen Abschreibungszyklus der Gebäude von zwölf Jahren. Die Dynamik und Instabilität beziehen sich nicht bloß auf die Funktionen, sondern auch auf die Funktionstrennungen von Wohnen, Arbeiten und Freizeit.

So folgt die räumliche und funktionale Struktur der Stadt keinem idealistischen Ordnungsprinzip und auch keinem einheitlichen und kontrollierbaren Bild. Die Stadt ist eher als ein Organisationsfeld zu verstehen, wo sich Inseln für verschiedene Gemeinschaften und Wohnvorstellungen bilden, oft nur temporär wie auch die Bindungen an den Ort werden immer kurzfristiger werden. So fehlt der kontextuelle Einbindung der stabile Rahmen.

Die Nutzungsdynamik lässt sich nicht allein mit der Vorstellung vom „Container“ (Rem Koolhaas) beantworten; denn sie beschränkt sich nicht auf das Objekt; sie findet großräumlich statt. Insofern kann man heute von einem permanenten Stadtumbau sprechen, der sich insbesondere auf das Umland bezieht. Die Verstädterungsprozesse sind nicht bloß postindustriell, sondern auch postfunktional geworden.


2.Der Strukturwandel hat auch damit zu tun, dass die traditionelle Stadt als Ort nur noch eine Option unter vielen ist. Die Standort-Konkurrenz hat sich in die Regionen, Agglomerationen und Nationen ausgedehnt. 70% der Europäer leben heute in einer verstädterten Landschaft. Dabei haben sich viele Agglomerationen zum vollwertigen Siedlungsraum entwickelt. Dafür gibt es unter anderen das Indiz, dass die Verkehrsbewegungen um die europäischen Kernstädte zugenommen haben, während sie zur Kernstadt mehr oder weniger stabil geblieben oder gar rückläufig sind. Um die Städte hat sich also ein Ring mit selbständigen Gemeinden gebildet, die über eigene urbanen Infrastrukturen verfügen. Das heißt, dass die Suburbanisierung in Urbanisierung übergeht. Die Siedlungsstrukturen werden netzartiger, gleichgewichtiger und weniger zentralisiert.

3. Die Urbanität ist nicht mehr auf die Kernstädte beschränkt und kann auch ohne Geschichte existieren. Das heißt, urbane Orte sind technisch herstellbar und technisch verfügbar. Ortsgebundenheit existiert in reiner, in der eigentlichen Form nicht mehr, weder kulturell noch materiell. Man kann deshalb von einer Hybridisierung des Urbanen sprechen, so dass die Urbanität an neue Grenzen ihrer Künstlichkeit stößt. Eine Folge davon ist die räumliche Einkapselung des Urbanen, das sich allein mit Zeichen und Ikonen formatiert. In Malls und Event-Cities wird Stadt simuliert als eine Trennung von Raum und Ort, was einer globalen Hyperkultur entspricht, die in diesen Centers als Performance vorgeführt wird.

Man kann diese genmutierten Stadtzellen freilich kritisieren - das ändert nichts an der Tatsache, das sie irreversible gesellschaftliche Prozesse und Siedlungsentwicklungen spiegeln, die mit neuen Arbeitsformen und Lebensgewohnheiten, also Lebensstilen, zu tun haben. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob es neben dem virtuellen, auch noch einen architektonischen Raum geben kann.

4. Die politische Schwäche der Stadt besteht darin, dass die Stadtbenützer hauptsächlich in der Region wohnen. Sie sind Kunden der Kernstadt, sei es als Arbeitskräfte, als Touristen oder Kulturkonsumenten. Es gibt kaum mehr Stadtbürger, die zuständig für den urbanen Alltag sind. So orientiert sich das Angebot an den hochspezialisierten Wünschen der Stadtkunden. Viele Kernstädte mit 300'000 bis 500'000 Einwohnern werden heute von einer bis zwei Millionen Kunden beansprucht.

Diese Themen und Fragen provozieren neben politischen, architektonischen und städtebaulichen Antworten. Man muss vor diesem Hintergrund Begriffe wie Dichte, Ort, Quartier, Landschaft, Typologie, Morphologie, Authentizität und Identität neu definieren und denken. Dies erfordert darüber hinaus auch eine andere Haltung. Man muss sich auf Unklarheiten einlassen, auf Uneindeutiges, auf Unvollständiges. Authentizität ist nicht etwas Bestimmtes, Authentizität ist allenfalls etwas Paradoxes; oder der Ort ist nicht einfach eine Kultur oder ein Bild, vielleicht existiert ein Ort nur als Erinnerung; man muss auch bedenken, dass sogenannte Aufwertungen der Städte möglicherweise Entwertungen sind. Jedenfalls kann man im Städtebau wie in der Architektur nicht mehr von Lösungen sprechen, allenfalls von Möglichkeiten, auch nicht von einer Raumordnung, allenfalls von Möglichkeitsräumen.

Aus diesem Zusammenhang erscheint auch eine Kritik am Zerfall der europäischen Stadt, die sich allein auf architektonische Belange bezieht, zu kurzatmig und sich auf eine kulturpessimistische Attitude zu beschränken. Sie kann auch zur Falle werden, wenn wie etwa am Potsdamer Platz in Berlin, eine Konsum- und Erlebniswelt aus dem 21.Jahrhunderts im Kleide des 19.Jahrhunderts erscheint. Solche Rekonstruktionen gehören längst zum Repertoire der fiktiven Erlebniswelten, in denen der Zerfall der europäischen Stadt als Freizeitvergnügen veranstaltet wird.

Es gibt jedoch einen Spielraum, sich den gleichen Themen anders anzunehmen. Man könnte von einer deprogrammierten Architektur sprechen: sie ist weder ästhetisch bevormundend, noch lebenspädagogisch aufgeladen, noch funktionell vorbestimmt und trotzt gestalterischen Kraftakten; sie bietet Möglichkeitsräume an.

Für diese Architektur setzen soziale Prozesse den Maßstab. Solche sind freilich nicht planbar; sie lassen viele Fragen offen. Aktive Kommunikation ist die wesentliche Basis derartiger Entwicklungsprozesse. Architektur ist eher Hintergrund. Sie folgt keiner vorgegebenen Form, sondern versucht, möglichst viele Informationen, Fakten und Themen aufzunehmen, um sie strukturell in einem Raumgefüge zu verknüpfen.

Ein Raumgefüge, das möglichst wenig determiniert, das Aneignungen und Aneignungsformen weitgehend offen lässt. Insofern wird die Form zu einer Überform: sie ist komplett genug für den Gebrauch und unvollständig genug für die subjektive Aneignung und komplex genug, um antizipationsfähig zu sein. So konkretisiert sich der städtische wie der architektonische Raum darin, dass er laufend durch Aneignung interpretiert werden kann. Wer hingegen planerische und gestalterische Überschüsse produziert, so die Lektion, hat das Gelände verfehlt, weil er den architektonischen und urbanen Fluss verdickt.

 

 

[1] Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. Frankfurt/M. 1985.

[2] Walter Prigge, Vier Fragen zur Auflösung der Städte. In: ders. (Hg.), Peripherie ist überall. Edition Bauhaus, Bd. 1. Frankfurt/M. 1998

 

erschienen in
Haus der Architektur Graz (Hrsg.)
100% Stadt - Der Abschied vom Nicht-Städtischen; Einleitung, Ernst Hubeli, Harald Saiko, Kai Vöckler, S.10
Verlag Haus der Architektur Graz 2003

 

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