Neuvermessung städtischer Orte
Bastian Lange │ Gottfried Prasenc │ Harald Saiko
Wie viele Städte geben die äußeren Merkmale der Landeshauptstadt Graz das Portfolio zahlreicher europäischer Großstädte wider: Kunst- und Kulturfestivals, historisch-touristifizierte Altstadt und ein Architekturhighlight mit Signalwirkung. Das soll Sichtbarkeit im internationalen Wettstreit und Aufmerksamkeit, Touristenströme und neue Ökonomien versprechen. Graz als gewachsene Stadt bietet die Ingredienzien und Merkmale der europäischen Urbanität sowie ebenso gelenkte, staatlich auf breiter Basis geförderte experimentelle kreative und künstlerische Auseinandersetzung.
Jedoch hat sich im Windschatten derartiger Leistungsbemühungen seit 2008 „von unten“ kommend der „Lendwirbel“ als neuzeitlicher Gegenentwurf erfolgreich entwickelt; Ein Stadtteilfestival, das im Lendviertel, einem ehemaligen Gewerbe- und Arbeiterbezirk zwischen Stadtzentrum und Hauptbahnhof eine virulente Szene von Aktivisten, Culturepreneurs, und Stadtteilinitiativen alljährlich vereint. Vormals erdgeschossige Leerstände der 90er-Jahre wurden durch Neunutzungen ersetzt, Stadtteilinitiative, Aktivisten und Ortsentwickler veranstalteten alljährlich ein Festival, das Plätze, Straßen, versteckte Ecken und unbekannte Gassen umcodiert und neuen Praktiken der Orte zu Tage brachte. Der Stadtteil avancierte zum temporären Spielplatz der Ideen und Experimente. Es wird gestaunt und gerockt, gekocht und gebastelt, vorgeführt und ausgestellt, diskutiert und entwickelt und der urbane Lebensraum als Bühne des Lebens zurückerobert. Der Lendwirbel ist die mehr-tägige Würdigung heterotoper urbaner Lebensformen, neuer Ortsaneignungsformen und –nach fünf Lendwirbelfestivals - Anlass einer urbanistischen Kontextualisierung, dieser Publikation.
Orte wie das Lendviertel sind global betrachtet im Fokus der Stadtentwicklung. An ihnen formiert sich eine neue Urbanität im 21. Jahrhundert. Aufbauend auf dem Fall des Lend zeigt diese Anthologie, wie unter sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Krisenbedingungen in Europa eine neue Praxisform der Ortsentwicklung Beachtung findet. Sie löst die Ära des öffentlichen städtischen Ortes zum alleinigen Zweck des Flanierens, Konsumierens und sich Präsentierens ab. An ihre Stelle treten Ortsentwürfe, an denen kulturelle und soziale Teilhabe neu erprobt, Produktionsprozesse ressourcenschonend eröffnet und neue Formen des Wohnens und Arbeitens entwickelt werden. Orte wie der Zuccotti-Park in New York sind mehr als nur öffentliche Orte, sie sind zu Kulminations-punkten neuer gesellschaftlicher Entwürfe avanciert. Auf Beteiligung abgestellte Planungs- und Bauvorhaben durch Baugruppen sind Ausdruck eines erhöhten Gestaltungsanspruchs an Wohn- und Lebensraum und der Selbstversuch, Wohnkosten zu senken. Temporäre Kultur- und Stadtteilinitiativen, wie das jährliche Festival „Lendwirbel“ in Graz, sind Bestrebungen selbstorganisierter Initiativen, den städtischen Raum temporär zu einer Zone kultureller und sozialer Interventionen umzuprogrammieren und dadurch neuen Praktiken der Kulturproduktion und des Stadtlebens zur Sichtbarkeit zu verhelfen.
Konnte man sich bis in das 20. Jahrhundert in der Stadtentwicklung auf die Figur des Bürgers als relativ souveränes Subjekt verlassen, so treten heute teilkollektive, ortsbezogene und partikulare Interessensgruppen in ihre Stelle: Es sind neue Ortsentwickler, die abseits der Planungsroutinen „Stadt machen“. Im Kern erheben gerade neue Aktivisten, welche häufig in kreativen und wissensbasierten Professionen zu finden sind, den An-spruch, ihre Stadt (mit) zu gestalten. Als „neue Stadtmenschen“ trennen sie Arbeiten und Wohnen nicht mehr funktionell, sondern vereinen verschiedene Funktionsbereiche an einem Ort.
Die Orte der Stadt werden neu vermessen und sind der Grund, exemplarische Perspektiven hier vorzustellen und den vielfältigen Ursachen nachzugehen.
erschienen in:
Bastian Lange / Gottfried Prasenc / Harald Saiko (Hg.)
Ortsentwürfe _Urbanität im 21. Jahrhundert
Jovis Verlag GmbH 2013