heimlich - Eine Forschungsreise nach dem Traum vom eigenen Haus

Vom Gewöhnlichen zum Eigentlichen

Als die Sensation des Gewöhnlichen bezeichnet man das Banale gern im Moment der Sichtbarwerdung aus dem vermeintlich Selbstverständlichen des Alltags. Die neuen Einfamilienhäuser, zentraler Gegenstand der vorliegenden Untersuchung und Darstellung, ließen sich unschwer in diese - oft ironische - Perspektive der Alltagskulturbetrachtung einfügen.
Was aber wenn wir die Sensation negieren und, der Methode dieser Arbeit folgend, den Nukleus "Einfamilienhaus" zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung machen?

So zeigt der Blick auf diese Häuser selbst eine grundsätzlich andere Ästhetik als noch in den 70er Jahren. Im Vergleich zu damals eher "eigengestalteten" Häusern, könnte die Charakteristik der neuesten Häuser vielleicht mit der Schaffung eines perfekten Ambientes in perfekter Ausführung beschrieben werden. Gemeint ist damit eine Homogenität, die die älteren Beispiele mit ihren an- und eingefügten Versatzstücken vermissen lassen, wo das Selbstgemachte spürbar bleibt. Das Zustandekommen dieses geglätteten Äußeren scheint im ersten Moment unverständlich, könnte sich nach genauerem Hinsehen aber über das Detail erschließen: Kleine Kellerfenster mit Sprossenteilung, zwischen den Schichten der Fassaden verschwundene Rolläden ohne sichtbare Kästen und Führungen, farblich abgestimmte Innenverschalungen von Dachüberständen erzeugen durch die Ausprägung der einzelnen Details und deren Fügung eine homogene Erscheinung ohne Brüche und Körperhaftigkeit. Einer Haut gleich, erinnert dieses Äußerliche an die Ästhetik der Bausätze von Modelleisenbahnhäuschen mit ihren dünnen, gestanzten Teilen in bunten Farben.

Dem Bild des Bausatzes entspricht auch die Beobachtung des Bestandes eines Bilddepots, in dem ohne erkennbare Ordnung Zitate gelagert werden. Die Baugeschichte bis hinauf zur Moderne, Traditionen verschiedenster Regionen, oder nicht gleich einordenbare Elemente dienen als Katalog zur Entlehnung. Hier finden, formal sichtbar, Austausch und Überlagerung statt, die die Umsetzung des Traumes vom eigenen Haus bestimmen. Der Einzelne einer immer breiter werdenden Mittelschichte kann mittels bildhafter Fragmente die individuell beste Lösung seines gewünschten und leistbaren Ambientes, das Haus mit
Garten, zusammenstellen. Der Bildspeicher der Medien, der Urlaubsreisen, der gebauten neuen und alten Häuser vergrößert sich dabei ständig um die ursprünglich aus ihm entnommenen und neu arrangierten Vorbilder, was die tendenzielle Angleichung der Bilder verstärkt.

Daß der so gesehene Vorgang des Zustandekommens des Äußerlichen dieser Häuser keine nationalen geschweige regionalen Grenzen kennt liegt auf der Hand und wird durch die Beobachtung während der Forschungsreise eindrucksvoll bestätigt. Natürlich kann ein regional traditioneller Typus als Vorbild dienen, sei es das Bauernhaus mit Giebelverschalung und Krüppelwalm, doch kann es genausogut 1000km entfernt in fast identer Form aufgespürt werden, andererseits können aber auch nicht regional zuordenbare Typen als Vorbild dienen, wie z.B. der Bungalow aus der Moderne oder der miniaturisierte Herrschaftssitz mit Mansarddach aus noch länger vergangener Zeit, die entlang der Linien durch 11 Länder Europas immer wieder gebaute Realität waren.
Der dabei entstehenden Gefahr der Entindividualisierung des Bildes und damit des persönlichen Ambientes entgeht das Individuum durch identitätsstiftende Mitbestimmung und neue Formen der Eigenleistung: Der Self-Made-Trend als Life Style ersetzt immer mehr die Eigenleistung als Kostenersparnis, macht manuelle Mitarbeit dadurch zur Freizeitbetätigung aller sozialer Schichten. Bei der Gestaltung des Traumes vom eigenen Haus wird offensichtlich in den Kanälen vorhandener Angebote von Mythologien und Traditionen gezappt, die Auswahl der Programme, Lautstärke und Helligkeit nimmt der Einzelne dabei für sich selbst in Anspruch.

Die so entstandene Kombinatorik vorgestanzter Elemente aus einem universalen Hausbaukasten strebt jedoch nicht nach baukünstlerische Originalität im herkömmlichen Sinn. Es dürfte sich dabei vielmehr um die materielle Konkretion einer Bedürfnislage handeln, die im gesamtgesellschaftlichen Maßstab wirkt und auf Abgrenzung bei gleichzeitiger Einbettung zielt. Man bewegt sich in einem Paradigma bewährter Gestaltungsmittel - Tektonik, Fassadenoberflächen, etc. gehören dazu - und verlagert die Formulierung individueller Abweichungen auf das Arrangement von Details, wobei der Vorgarten genauso dazugehört wie das immer beliebtere Biotop. Ländliche Versatzstücke können es sein, und sei es nur Naturbelassenheit von Balkongeländer und Fensterrahmen, die Heimat und Geborgenheit evozieren sollen.

Die individuelle Organisation der Versatzstücke ergibt eine wesentliche Differenz zum Standard, ohne diesen in Frage zu stellen. Der Standard, die gesamtgesellschaftlich dominierende ästhetische Übereinkunft, verspricht einen Rest an Behaustheit in der metaphysischen Obdachlosigkeit der beschleunigten Lebensrealität des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Dies scheint umso schlüssiger, betrachtet man die Medien-Massierung mit ihrer 24-Stunden Abfolge von Katastrophenpartikeln, kontradiktorischen Weltdeutungen und selbstgeschaffenen Ereignishysterien, die ja das Gefühl unterminieren, sich relativ gesichert innerhalb gewachsener und tradierter Wertsysteme zu bewegen. Die entstehende äußerliche Tradition, die sich am Ähnlichen orientiert, stiftet dabei in ihrer Neigung zum Seriellen einen, und sei es noch
so arbiträren, Sinnzusammenhang.

Isoliert man das aufgespannte Gegensatzpaar dieser Bedürfnislage, Individualisierung bei gleichzeitiger Einbettung, so weist es auf analoge Erscheinungen in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht. Die wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Krise seit den 70er Jahren, oft mit Post-Attributen - postindustriell, postmodern - umschrieben, war oder ist auch eine Krise in Folge der Massenproduktion, zumindest in wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht.
Dabei entwickelte sich eine Marktstrategie, die gewissermaßen der wirtschaftliche Unterbau der Postmoderne ist: Identitätslose Massenprodukte koexistieren mit Produkten, deren Design oder Image eine Bedeutung erlangen, die den Gebrauchswert zugunsten eines spezifischen Life-Style überblenden. Waren werden aber nicht nur zum - verdinglichten - Element der Selbstdarstellung, sie integrieren das Streben nach Identität in die Warenproduktion.
Die Dialektik postmoderner Warenproduktion besteht in der Spiegelung und Verdinglichung des sozialen Wandels, der von einer Koexistenz und Individualisierung unterschiedlicher Lebensformen und Kulturen innerhalb westlicher Gesellschaften geprägt ist, welche sich unüberblickbar zersplittert haben. Als Bestandteil der entstehenden Warenästhetik postmoderner Produktion sind diese freilich auch schnellebig, austauschbar. Identitäten müssen - um als solche zu gelten - immer gewechselt, neu erfunden werden.

Die Recherche bestätigt auch die Ausweitung der Massenproduktion auf die Umsetzung des Traumes vom eigenen Haus. In seiner europäischen Variante ist dieser Vorgang kein einheitlicher, so sind zum Beispiel Fertighäuser ein rein skandinavisches und ausgerechnet seit Mitte der 70er Jahre ein quantitativ relevantes Phänomen im deutschsprachigen Raum. Klassische Vorgehensweisen wie der Eigenbau oder die Errichtung durch Professionisten bzw. deren Mischformen unterliegen aber ähnlichen Mechanismen aufgrund der steigenden Verwendung von vorfabrizierten, kompatiblen Elementen, sodaß die fertiggestellten Eigenheime in ihrer Homogenität kaum mehr Rückschlüsse auf die Entstehungsart zulassen.
Die beobachtbare internationale Angleichung des Endproduktes in Bezug auf die Organisationsform des Hausbaus scheint trotzdem ambivalent, betrachtet man die nationalen Erscheinungsformen. Das belgische Modell, das die Planung jedes Eigenheimes durch einen Architekten zwingend vorschreibt (ein Umstand, der von der Architektenschaft anderer Länder heftig gefordert wird) führt zu keinen erkennbaren ästhetischen Auswirkungen oder gar qualitativen Unterschieden im Vergleich der untersuchten Länder.

Genausowenig gilt dies für weitere variierte Formen der Planung und Herstellung in anderen mitteleuropäischen Staaten: Das genannte Fertighaus, industriell standardisiert oder nach persönlichen Wünschen individuell geplant, Massivbauhäuser von Baumeistern, Häuser von Generalunternehmern als Träger von Planung und Ausführung im herkömmlichen Sinn, oder archaische Eigenbauvarianten in den Reformstaaten, wo die Vorbilder des angrenzenden "Westen" diffundieren, ähneln einander im Ergebnis oft zum Verwechseln.
Sichtbar werden die kulturspezifischen Unterschiede immer geringer, verschwinden zusehends unter dem Mantel einer gemeinsamen Produktions-, Vermarktungs- und Informationsstruktur. Als verbindendes Merkmal der Baudurchführung kann eine Verschiebung bei den tradierten Akteuren gesehen werden: Vom Dreieck Bauherr, Planer, Ausführender zu immer häufiger auftretenden Developer-ähnlichen Organisationsformen und deren Konsumenten. Das arbeitsteilige Vorgehen beim Hausbau verdrängend, verstärkt diese Methode nochmals die angesprochene Angleichung. Es liegt nahe, daß von ein und demselben Produzenten aufgeschlossene und mit Fertighäusern bebaute Wohnstraßen in Österreich, vom gleichen Systeembouw errichtete Dörfer in der Randstad Hollands in ihrer ökonomischen Optimierung einerseits und in ihrer ästhetischen Wunscherfüllung andererseits keine großen Abweichungen vom allgemeingültigen Standard zulassen, aber durch ihren Multiplikationseffekt die schrittweisen Veränderungen desselben beschleunigen.

Kontext Neue Stadt
Wohnbau dieser Art, Additionen oder Gruppierungen neuester Einfamilienhäuser, weisen aber auch ganz deutlich auf eine andere Ebene, nämlich den Kontext seiner Positionierung, der bisher fast ausschließlich mit Peripherie oder Zersiedelung in Zusammenhang stand. Doch folgt man, wieder vom einzelnen Haus ausgehend, den Spuren der Einbindung dieser Häuser, den Straßen, den Infrastrukturen, sowohl den Sichtbaren wie auch den Unsichtbaren, also letztendlich dem Beziehungsgeflecht, so werden die Begriffe Peripherie oder Zersiedelung fragwürdig, was gleichzeitig den Typus der dichten, europäischen Stadt in Frage stellt, um den sich periphere Auswucherungen unter Beibehaltung ihres Zentrums als
Funktionsmittelpunkt ballten.
Initialpunkt dieser Analyse war ein Partikel in der Landschaft Belgiens, das Austausch und Überlagerung von urbanen und ruralen Funktionen, von urbanen und ruralen Bildern besonders deutlich macht: In bewaldeten Hügeln südlich von Waterloo - in erheblicher Entfernung von ca. 50km zur Hauptstadt Brüssel - verbirgt sich abseits einer kleinen Straße ein außerst luxuriöses "Rurban Village". Rund 20 große Villen entlang eines geschwungenen Weges beherbergen hohe Beamte und Botschaftsresidenzen. Die bloße Existenz einer nahen Autobahnauffahrt ist Symbol einer Vernetzung, die aber vor allem unsichtbar in Form der Telekommunikation gegeben ist, die diese Lage so wichtiger Entscheidungsträger in unberührter ländlicher Umgebung ermöglicht. Daß die Möglichkeit solchen Austausches nicht an finanzielle Potenz allein gebunden ist, zeigt ein anderes Beispiel aus Holland: Aus Kostenersparnis bauen sich dort deutsche Bundesbürger ein Haus mit Garten, arbeiten aber weiterhin im Ruhrgebiet, wiederum ist nur die Autobahn die sichtbare Verbindung zwischen den beiden "Heimaten" dieser Menschen.

Jedenfalls können die auseinandergedrifteten Funktionen, in diesen Beispielen Arbeit und Wohnen, nicht mehr im Netz der klassischen zentralen europäischen Stadt gesehen werden, nicht einmal in ihren Peripherien.

Ausgehend von diesen beobachteten Partikeln eines Beziehungsgeflechtes kann eine Entwicklung abgelesen werden, die aus den USA bekannt ist, und in ihrer europäischen Variante offensichtlich mit Verspätung - als Folge des Rückschlages durch den 2. Weltkrieg - eintritt. Diese Entwicklung zerstört die Logik, die die dichte Stadt erst ermöglicht hatte, und führt dazu, daß diese zunehmend ihre entscheidenden Funktionen verliert, die jetzt über eine weite Region verteilt werden.

Am Anfang dieser Entwicklung stand sicher der Aufstieg der Peripherie rund um den Stadtkern, vor allem schon mit dem Haus mit Garten, das zum Zufluchtsort aus dem Lärm und Trubel der Stadt wurde. Doch die Stadtflucht wurde in gleichem Maße vom produzierenden Gewerbe betrieben, der Industriepark oder der Gewerbepark haben das alte städtische Industrieviertel als Zentrum der Produktion abgelöst. Und auch eine Bastion innerstädtischer Wirtschaftsmacht und gleichzeitig größter Wachstumsfaktor der dienstleistenden Gesellschaft, die Büroarbeit ging und geht diesen Weg: Oft gartenarchitektonisch gestaltete Büroparks und Forschungszentren, die die Straßen außerhalb der Stadt säumen, beherbergen nicht nur die modernsten High-Tech-Labors. Diese Auslagerung von verschiedenen Funktionen hat in den Bereichen um die Städte eine komplexe ökonomische Struktur erzeugt, die mit denen der früheren Schlafstädte in diesem Gürtel, der Peripherie, nicht mehr vergleichbar ist.

Diese neue Stadt um die Stadt ist also nicht die Metropole des Fritz Lang, sie ist die vertraute Stadt der Einfamilienhäuser, der Einkaufscenter, der Hallen der Gewerbeparks und Fitneßcenter, der Autohändler und Baumärkte. Obwohl wir mit den Charakteristika dieser neuen Stadt vertraut sind, wird nur von wenigen darauf reagiert, zumal der augenscheinlichste Unterschied zur alten Stadt, die flächenmäßige Ausdehnung, auch den Bereich deren Peripherie längst sprengt. Darüber hinaus sind die Einheiten scheinbar planlos entlang der Straßen verteilt, ohne die meist klar erkennbare Abgrenzung zwischen den Bereichen, die für die klassische Stadt kennzeichnend war. Es fehlt also auch, was jeder urbanen Form im herkömmlichen Sinn Gestalt und Bedeutung verleiht: dominierende Zentren. Diese neue Stadt ist weder städtisch noch ländlich noch vorstädtisch - sie besitzt alle diese Elemente gleichzeitig und entzieht sich damit der konventionellen Terminologie der Stadtplaner wie der Historiker, wie das Fehlen einer Bezeichnung für diese neue Stadtform zeigt.

Wie also kann dieses Beziehungsgeflecht funktionieren? Wie ist es möglich, die alte Stadt in ihrer Zentrierung und der damit verbundenen optimierten Funktionskonzentrierung auf ein vielfaches ihrer Fläche auszuweiten und das bei oft gleichbleibenden, ja sinkenden Bevölkerungszahlen? Unschwer kann behauptet werden, daß als Basis dieser Entwicklung das Automobil, sowohl der PKW für Personen als auch der LKW für Güter, mit seiner enormen Mobilitätssteigerung gesehen werden kann. Doch hätte dieser Faktor allein nicht diese Wirkung entfalten können, hätten nicht weitere Netzwerke andere Mobilitäten ermöglicht. Diese Mobilitäten, vor allem deren zunehmende Verbreitung in seit Jahrzehnten prosperierenden Volkswirtschaften Mitteleuropas machen jeden Punkt einer Region prinzipiell schnell erreichbar, sei es körperlich, mit dem Telefon, dem Fax oder überhaupt On-Line. Dieser Umstand ermöglicht es, für jede Funktion die "individuell beste Lösung" zu suchen, die auf Grund der neuen Mobilitäten nicht mehr zwangsweise im Bereich der
dichten Stadt sein muß.

So kann der Gewerbe- oder Industriepark auf der grünen Wiese einstöckige Hallen nach neuesten
Erkenntnissen der Effizienz errichten und erweitern ohne vom Platz her eingeschränkt zu sein, die Lage wird nicht mehr von den wenigen Eisenbahnlinien bestimmt, sie kann irgendwo entlang der unzähligen Straßen gewählt werden, das gleiche gilt analog für Einkaufszentren, Büroparks etc. also fast alle bisher sehr städtischen Funktionen, bis hin zum Wohnen, wie die eingangs erwähnten Beispiele aus Belgien und Holland beweisen, wo sich der Einzelne das Haus im Grünen als individuell beste Lösung des Wohnens gewählt hat.

Aber kann man diese landfressende, die Landschaft "zersiedelnde" Form des Städtebaus nun tatsächlich als Stadt bezeichnen?
Die Frage ist, ob es in dieser Form von Stadt eine erkennbare Struktur gibt, nachdem ihre dreidimensionale Verwirklichung in ihrer Heterogenität eine solche nicht zeigt. Hilfreich bei der Suche nach einer Struktur kann dabei F.L. Wrights Idealstadtentwurf "Broadacres" aus der ersten Hälfte (!) des Jahrhunderts sein, der die hier besprochene Entwicklung prophetisch vorwegnimmt - wenn auch in seiner amerikanischen Variante ohne den Bestand der traditionellen europäischen Stadt einzubeziehen. "Das wahre Zentrum, die einzige zulässige Zentralisierung in der Demokratie Usonias, ist das einzelne Haus." schreibt Wright zu diesem Projekt, und meint damit, das Einfamilienhaus aus seiner Abhängigkeit von der Stadt zu befreien und zum Mittelpunkt des Lebens zu machen.

Nimmt man dieses Haus nun als Ausgangspunkt, als Mittelpunkt der darin lebenden Stadtbewohner, kann die Struktur, das Funktionieren dieser Stadt an deren Handlungen nachvollzogen werden. Die Bewohner schaffen sich ihre Stadt anhand der Ziele, die sie innerhalb einer zumutbaren Zeit erreichen können. Das Muster, das diese Zielpunkte bilden, stellt für die betreffenden Personen "die Stadt" dar. Je größer die Zahl der Zielpunkte, um so reicher und vielfältiger ist die "Stadt" für die Bewohner, diese Stadt ist eine Stadt à la carte. Man kann diese Summe von Zielpunkten in drei Kategorien einteilen, das Haushaltsnetz, das Konsumnetz und das Produktionsnetz, die diese Stadt definieren. Das Haushaltsnetz setzt sich aus den Orten zusammen, die Teil des persönlichen oder familiären Lebens sind. Zielpunkte sind die Wohnungen und Häuser, die Schulen und Kindergärten etc., die in eher kurzen Entfernungen voneinander liegen, aber doch schon erheblich weiter als in städtischen Nachbarschaften oder Quartieren. Das Verbrauchsnetz besteht im wesentlichen aus den Geschäften bis hin zum Shoppingcenter, den unzähligen Freizeiteinrichtungen wie Fitneßcenter, Tennisplätze, Gastronomie etc., es erfüllt im Wesentlichen die Funktionen analog zu den Stadtzentren, ist in seiner Ausdehnung aber natürlich ein Vielfaches davon. Das Produktionsnetz schließlich beinhaltet alle Punkte der Arbeitswelt, der Verwaltung etc. in denen die Bewohner beschäftigt sind, es entspricht Funktionen der traditionellen Stadt wie Verwaltung im Zentrum oder den Gewerbeviertel.

Jedes dieser drei Netze besitzt seine eigene räumliche Logik - so sind Schulen natürlich abhängig von der Zahl der Kinder verteilt, Einkaufszentren entsprechend Einzugsbereich und Kaufkraft, Gewerbe richtet sich nach Erreichbarkeit etc. - überschneiden sich aber gegenseitig, ergeben ein komplexes Bild von Überlagerungen und Durchdringungen, die anstelle der meist klaren funktionalen Trennungen der traditionellen Stadt treten. Der Maßstab dieses Raumes ist die Zeit, die für den User entscheidend ist, und in der Tat werden in dieser Stadt die Entfernungen in Zeitspannen gemessen: Das Geschäft ist 5 Minuten entfernt, die Innenstadt eine halbe Stunde, der Golfplatz ca. 40 Minuten etc. Kann das Leben in der neuen Stadt um die Stadt also mittels dieser Benutzeroberfläche beschrieben werden, so steht natürlich auch die Frage nach dem Verbleib der traditionellen Stadt im Raum, deren "Krise" nur zu oft in der Diskussion auftaucht. Bei diesen Lamenti handelt es sich offensichtlich um die Beschreibung genau jener Veränderungen, die auf die Ausweitung und Dezentralisierung zurückzuführen sind, aber meist isoliert betrachtet bleiben.
So wie die Industriestadt sich um die mittelalterliche Stadt entwickelte, so entsteht die neue Stadt rings um die gegenwärtige Stadt, je nach Topographie oder entlang zufälliger Entwicklungsachsen in diese oder jene Richtung. Dabei wird das ehemalige alleinige Zentrum nur zu einem, wenn auch wichtigen Konzentrationspunkt des neuen Ganzen. Und auch hier setzt sich das System der "individuell besten Lösung" durch: Im alten Zentrum bleiben hohe Verwaltungsebenen, Luxuskonsum einerseits, vor allem dort, wo historisches "Ambiente" zur Verfügung steht, Nischenfunktionen die ebenso dieses Ambiente nutzen, wie spezialisierte Geschäfte, teure Restaurants etc., oder Wohnen in teuren Kategorien wie z.B. in großen Gründerzeitwohnungen. Andererseits gibt es Gewerbe- oder Industrieviertel, die keine neuen Funktionen
erhalten. Nach deren Abwanderung und auch der Abwanderung der heimischen Arbeiter in die Häuser der neuen Stadt, finden unterprivilegierte Schichten Platz in diesen Quartieren, in der mitteleuropäischen Gesellschaft meist "Ausländer". Hat dieser Teil der Stadt einst mit Arbeit die Massen gelockt, so strömen jetzt Arbeitslose in diesen Teil ohne Arbeit.
Es entsteht die Situation, daß ärmste Schichten neben höchstem Luxus den Kern dieser Stadt bilden, und sich die neue Stadt von diesen Problemen abschottet, in diesem Fall ist diese "individuell beste Lösung" für die Unterprivilegierten eine fragwürdige.

Ein einstiges Monopol der traditionellen europäischen Stadt, der gesamte Bereich der Kommunikation und Kultur, der immer in Verbindung mit den verschiedenen Arten von "öffentlichem Raum" gesehen wird, führt schlußendlich wieder zurück in das von Wright als neues Zentrum postulierte Einfamilienhaus. Zwar werden dominierende Einrichtungen der Hochkultur, wie Oper, Theater, Museen, vermutlich immer wieder ihren Standort im alten Zentrum behalten / finden, aber im elektronischen Zeitalter werden diese Institutionen nicht mehr ihr Monopol behalten. Dasselbe kann für die Öffentlichkeit in öffentlichen Räumen behauptet werden.
In der modernen Massengesellschaft wird dies sichtbar, denn Öffentlichkeit ist immer weniger ausschließlich an soziale Schichten, Formen oder Orte gebunden, sie ist heute atomisiert, in unzählige Teilöffentlichkeiten zersplittert, die Institutionen oder Gruppen formieren. Dies ist nur logisch in einer Zeit der Erosion öffentlicher und privater Wertsysteme in Heterogenität, die eindeutige Lesbarkeiten erschwert.

Die Bewohner des einzelnen Hauses schließlich nutzen auch hier die Zielpunkte der neuen Stadt nach ihren persönlichen Wünschen: Der ganze Tag in einem großen Shoppingcenter mit seinen Restaurants, Geschäften oder Kinos kann die Teilnahme an einer Öffentlichkeit in einem Öffentlichen Raum bedeuten, genausogut kann ein Spaziergang durch den Louvre auf CD-Rom zur Entspannung dienen, unzählige Fernseh- oder Radioshows laden zur aktiven Teilnahme via Telefon, die Politik, die am runden Tisch gemacht wird, ist auf einem der -zig Kanäle vom Wohnzimmer des Einfamilienhauses aus zu sehen.

Die Summe aller Zielpunkte, aus denen die User ihre persönliche Stadt auswählen, sind dabei nicht nur die dezentralen Städte im Ruhrgebiet oder die Randstad Hollands, sie kann genausogut zwischen Graz-Andritz und Wildon gefunden werden.


Source Material:
Das Serielle - Thomas Mießgang / Ausstellungskatalog heimlich
Das Gewöhnliche als das Eigentliche - Harald Saiko+Jànos Kàràsz / Ausstellungskatalog heimlich
Die befreite Megalopolis - Robert Fishman / arch+ Dez. `91
Thesen, Programme, Bauten - Ernst Hubeli / Werk, Bauen + Wohnen Okt. `95
Neue Öffentlichkeiten, neue Privatheiten - Ernst Hubeli / Werk, Bauen + Wohnen Nov. `95


Harald Saiko & Jànos Kàràsz (Hrsg.)
Heimlich – Eine Forschungsreise nach dem Traum vom eigenen Haus
Vom Gewöhnlichen zum Eigentlichen
Verlag Haus der Architektur Graz 1995

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