Leistbares Wohnen in der wachsenden Stadt

 

Von Bastian Lange und Harald Saiko
auf Basis eines Gesprächs mit Georg Kogler (Wien) und Tom Kadden (Berlin)

 

Rasante Mietpreissteigerungen in europäischen Großstädten und Metropolen bestimmen seit einigen Jahren die Schlagzeilen in Politik, Print- und Webmedien. Dabei geht es schon lange nicht mehr um punktuelle Einzelfälle explosionsartiger Miet- und Immobilienpreissteigerungen. Vielmehr steht die soziale Frage im Vordergrund, wer in der Stadt zu bezahlbaren und angemessen Konditionen wohnen kann? Im Verbund mit ebenso gestiegenen Nebenkosten für Strom, Wasser und öffentliche Ausgaben, ist es nicht nur für einkommensschwache Menschen und Familien schwierig geworden, adäquaten Mietwohnraum zu finden. Immer öfter müssen sich auch einkommensstabilere Mittelschichthaushalte fragen, wo es für sie bezahlbaren Wohnraum gibt? Das gilt in stärkerem Maße für jüngere Familien, Senioren und Studierende.

In Städten wo der Bedarf aufgrund stetigen Zuzugs und Einwohnerzahlen steigt, werden bezahlbare Mietwohnungen für Geringverdiener immer knapper. Zum anderen werden Wohnimmobilien parallel dazu immer teurer. Seit diesen Jahren liegen die Preissteigerungen sogar deutlich über der Inflationsrate, wie eine Untersuchung der größten deutschen Städte durch das Institut der deutschen Wirtschaft Köln im Jahr 2012 zeigt. Vor allem in Ballungsgebieten steigen die Werte von Wohnungen und Häusern nahezu stetig an. An den Märkten stiegen die Preise für Eigentumswohnungen von 2003 bis 2011 bundesweit um etwa 10,5 Prozent im Verhältnis zum Ausgangswert 2003. Sehr viel stärker verteuerten sich die Immobilien in Großstädten wie in Hamburg um 31 Prozent, in Berlin sogar um 39 Prozent und in München um 23 Prozent. Ähnliches gilt für urbane Zentralräume in Österreich, wie etwa Wien oder Graz. Parallel zu den wohnungsmarktbezogenen Kostensteigerungen sind Prozesse der Gentrifizierung in aller Munde. Klar ist, dass ein Übermaß an Nachfrage auf einem Markt mit nicht ausreichendem Angebot zu Konflikten führt. Ob es letztendlich zu einer kulturellen und sodann standörtlichen Verdrängung einkommensschwacher und ungenügend vernetzter sowie politisch lange Zeit unterrepräsentierten Bevölkerungsteilen führen kann, ist jedoch auch von etlichen anderen Faktoren abhängig. So unterscheidet sich beispielsweise das Mietrecht in Deutschland und Österreich sehr stark. In Österreich wird in manchen Vierteln zwar Verdrängung und Gentrifizierung thematisiert, aufgrund des stabilen Mietrechts kann aber eher von einer „Überfüllung“ gesprochen werden, die Folgekonflikte nach sich ziehen kann. Festzuhalten ist, dass die debattierten Formen der Gentrifizierung in schrumpfenden Städten oder Abwanderungsgemeinden kein Thema sind, sondern nur in den stark wachsenden Städten. Dies wirft die Frage auf, ob es tieferliegende Ursachen für solche Phänomene gibt, als einzig eine renditegetriebene Wohnungsmarktwirtschaft?

 

Die Einflussgrößen des Wohnungsmarktes

Zuallererst ist ein Einkommensverlust der Gesellschaft auszumachen, welcher die Wohnvorsorge bei gleichzeitig steigenden Preisen zusätzlich erschwert. Dabei ist es egal, ob diese Einschränkung durch reale, monetäre Einkommensverluste der Menschen entsteht, oder etwa durch relative Verluste durch Veränderungen der Wohnsituation. Die ansteigende Anzahl von Singlehaushalten etwa schmälert das Wohnbudget pro Wohnung gegenüber den früher häufigeren gemeinsamen Wohnbudgets von Paaren oder Familien. Faktum ist, dass viele Menschen weniger Geld für das Wohnen zur Verfügung haben. Aber auch der Automatismus der letzten Jahrzehnte, welcher parallel zu Wohlstandsentwicklung und Wirtschaftswachstum eine stetig steigende Nutzfläche pro Kopf und somit stetig steigende Wohnkosten pro Kopf produzierte, fördert die Kostenexplosion. Das Abbrechen oder zumindest Verlangsamen dieses Automatismus kann auch als Einschränkung empfunden werden. Analoges gilt für die parallel gestiegenen Standards und Komfortansprüche an das Wohnen und somit den Wohnungsbau. Es herrscht also ein komplexes Geflecht von objektiven wie subjektiven Kräften, die auf das einfache Dreieck konkreter Wohnbedarf, persönliches Wohnbedürfnis und monatliche Wohnkosten jedes Einzelnen wirken.

 

Das Grundstück und der Liegenschaftspreis

Die Kosten des Wohnungsbaus und somit für das Wohnen beginnen beim Preis für das Grundstück. Das Segment für die Allerbedürftigsten könnte allenfalls noch mit einem überschaubaren Prozentsatz von sozialem Wohnungsbau erfüllt werden. Als soziale Subvention durch Ankauf, Errichtung oder Bestandsbetrieb von einzelnen Wohnungsprojekten weit unter Marktpreisen erfolgt dies immer noch in etlichen mitteleuropäischen Städten, beispielsweise in Graz. Wie schwer es trotzdem für Geringverdiener ist, bezahlbaren Wohnraum in Ballungszentren zu finden, belegt die Entwicklung bei Sozialwohnungen. Ihre Zahl ist einer Mitteilung des Bundesbauministeriums zufolge in den vergangenen Jahren um etwa ein Drittel zurückgegangen.

Für die Marginalienspalte: So habe es 2002 noch 2,47 Millionen Sozialwohnungen in Deutschland gegeben, berichteten die Ruhr Nachrichten am 02.08.2012 unter Berufung auf eine Antwort des Bundesbauministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der Linken-Abgeordneten Caren Lay. Laut dieser Antwort sank bis Ende 2010 diese Zahl um etwa 800.000 auf nur noch 1.660.000 Wohnungen in der BRD. Kommunale Sparzwänge und verfehlte Haushaltspolitiken zwangen, so das Antwortschreiben, zum Verkauf von kommunalen Immobilienbeständen.

Unabhängig von dieser quantitativen Betrachtung lassen sich als Gründe – je nach parteipolitischer und ideologischer Position – zum einen der Immobilienboom als quasi unvermeidbares Ergebnis von Nachfrage und Anlagestrategien anführen, zum anderen die Hilfslosigkeit der kommunalen Wohnungsunternehmen, die keine Lösung (und Weitsicht) an den Tag legen, kommunale Wohnungsbestände in ihrem Besitz zu halten. Als Ausdruck völliger Hilfslosigkeit zeigen sich viele Stimmen aus dem Finanz- und Immobilienbereich, die daraufsetzen und vorschlagen, dass einfach mehr Rendite zu erzielen sei, so dass der Markt den Rest regelt.

Für die große Breite der gesellschaftlichen Schichten, die der verteuerte Wohnraum genauso bedrückt, ist eine solche wohlfahrtsstaatliche Generallösung durch die Kommunen schlichtweg nicht machbar. Und klar ist, dass der steigende Wohnbedarf in den nachgefragten Städten das Angebot an Grundstücken verteuert. So betreibt Wien spätestens seit den 1980er-Jahren eine kontinuierliche, aktive Grundstückspolitik mithilfe eines finanziell potent dotierten Fonds, welcher die Gesamtabdeckung des Wohnungsmarktes durch seine präsente Marktteilhabe tatsächlich mitsteuert. In Kombination mit weiteren Instrumenten wie etwa Bauträgerwettbewerben und einem Mix verschiedenster Förder- und Betreuungsschienen werden diese politischen Aktivitäten konform heutiger EU- und Bilanzvorschriften abgewickelt. Wien dürfte aber ein seltenes, wenn nicht einmaliges Beispiel sein, wo die öffentliche Marktteilnahme den Gesamtmarkt einer Großstadt und somit die Liegenschaftspreisgestaltung wenn schon nicht beherrscht, so doch spürbar kostenrelevant beeinflusst. Die meisten anderen von steigendem Wohnbedarf betroffenen Städte haben wenig Einfluss auf diesen Regelkreis oder sind dazu politisch nicht in der Lage.



Wohnbauförderung und Finanzierung

Die Wohnbauförderung ist ein Steuerungsinstrument der Familien- und Sozialpolitik, dessen Ziel die Förderung bedarfsgerechten, bezahlbaren und qualitätsvollen Wohnraumes ist. Je nach Land spielen auch andere Kriterien eine Rolle, etwa als Anreiz zur privaten Investition in den Wohnungsbau wie Sanitäranlagen, verbesserte Energiesysteme oder zusätzliche Wärmeisolation. Es wird dieses Instrument je nach Region eher zum Neubau eingesetzt oder zur nachträglichen ökologischen Verbesserung, Wärmedämmung und anderen Maßnahmen zur Senkung des Energieverbrauchs einer bereits bestehenden Wohnimmobilie. Mitunter können durch städtebauliche Sanierungsverträge Effekte auf die Belebung von Ortsteilen erzielt werden, ebenso im Zuge der Zweckbindung die Wohnraumversorgung bestimmter Bevölkerungsgruppen mit ausreichendem Wohnraum mit Hilfe der Wohnungsbauförderung gesichert werden.

Mitunter kann der Mietzins auf die Kostenmiete begrenzt werden, um die Versorgung sozial schwacher Mieter durch Zweck- und Preisbindung bei Vergabe der jeweiligen Förderung zu sichern.

Zweifellos ist es ein wichtiges staatliches Instrument zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen in Städten und zur Sicherung der sozialen Durchmischung in innerstädtischen Wohnquartieren. Während sich der Staat in der BRD immer stärker von diesem Instrument verabschiedete, ist die Wohnbauförderung in Österreich immer noch fixer gesetzlicher Bestandteil aller öffentlichen Haushalte, wenn auch Zweckbindungen oder Effizienz da oder dort zu diskutieren sind.

Auch die Finanzierung spielt eine ganz wesentliche Rolle für Potentiale, Möglichkeiten und Preisbildung im Wohnbau. Gerade seit den Ereignissen der Finanzkrise 2008 sind hier Umwälzungen im Gange, die nur wenigen Eingeweihten in ihrer ganzen Tragweite ersichtlich sind. Zusammen mit den für den Wohnbau langfristigen Finanzierungserfordernissen sind die Instrumente der Wohnbauförderung ein komplexes Räderwerk, das außerhalb eines sehr beschränkten Kreises von Experten und Betroffenen nicht zugänglich ist. Dies erschwert letztlich auch eine sachliche, öffentliche und politische Debatte.

 

Planung, Regulierungen, Bau und Instandhaltung

Ein weiterer wesentlicher Kostenfaktor des Wohnens ist die Hardware der Gebäude. In diesem Bereich kam und kommt es in den letzten Jahren zu einem dramatischen Anwachsen von technisch, räumlich und funktional immer anspruchsvolleren Richtlinien und Reglementierungen.

Normen für Brandschutz, Behindertengerechtigkeit, Erdbebenschutz, Energieeffizienz, Nachbarschaftsrechte oder Verfahrensabläufe und deren Nachweise usw. sind allesamt im öffentlichen Interesse. Jedoch verteuern sie den Neubau genauso wie Sanierung und Instandhaltung von Wohnraum kontinuierlich. Somit stehen sie dem übergeordneten öffentlichen Interesse nach leistbarem Wohnraum diametral entgegen. Dazu kommt, dass diese Planung und Bau beherrschenden Regelkreise außerhalb der beteiligten Fachwelt nur sehr schwer vermittelbar sind. Es wird dieser Trend dadurch verstärkt, dass das Zustandekommen der Richtlinien in Normenausschüssen oder einzelnen Interessensvertretungen ohne kostenwirksame Sicht erfolgt, wenn diese ihr eigenes Tun und Beschließen nicht selber austragen müssen. Das Eindämmen dieser wohnkostentreibenden Entwicklung kann also nur eine politische Top-Down-Entscheidung sein, die aber aufgrund der Komplexität der Materie und aufgrund der Unpopularität der einzelnen Maßnahmen kaum mehrheitsfähig werden kann. Welche Politik kann schon öffentlich gegen Brandschutz oder die behindertengerechte Planung von Wohnungen auftreten?

Gleiches gilt sinngemäß für die öffentliche Bewertung dieser Normen und Richtlinien. So verkommt die ökologisch höchst relevante Frage der Energieeffizienz zunehmend zu Marketingbegriffen rund um Passivhäuser oder Plusenergiehäuser, da diese sehr einfach mit einzelnen Kennwerten berechnet und öffentlichkeitswirksam dargestellt werden können. Zwar ist die Lage von Wohnraum in der dichten Stadt kurzer Wege den ökologischen Kollateralschäden einzelner freistehender Passivhäuser und deren Erschließungs- und Verkehrsbedarf weit überlegen. Diese Zusammenhänge können aber in gängigen rechtlichen Vorgaben wie Energieausweisen und Heizwärmebedarfsberechnungen nicht berücksichtigt werden und verharren somit als Debatte innerhalb einer relativ abgeschlossenen Fachwelt.

Eine Eindämmung der Zunahme und in Folge eine sensible aber spürbare Rücknahme und Entrümpelung von Normen, Richtlinien und Reglements ist eine dringliche Aufgabe. Für die Ermöglichung leistbaren Wohnraums, egal ob bei Neubau oder Sanierung und laufender Instandsetzung des Bestandes, ist dies eine der größten Zukunftsfragen.

 

Größe und Funktionalitäten des Wohnraums

Auf eine weitere wesentliche Einflussgröße für leistbaren Wohnraum, wenn die verfügbaren Mittel der Einzelnen und die verfügbaren Wohnbaumittel geringer werden, verweist das Programm der Stadt Wien unter dem Titel „Smart Wohnen“. Es fordert und fördert schlichtweg, Wohnungen bei gleichbleibender Wohnqualität kompakter und somit kostengünstiger zu konzipieren. Im Zuge dieses Smart-Programms wird der Anspruch gestellt, alle gängigen Wohnungstypen von 1-, 2-, 3- oder 4-Zimmerwohnungen durch ein intelligentes Grundrisslayout „smart“ – also kleiner – zu machen. Dabei wird natürlich eine gleichbleibende Grundrissqualität genauso wie praktikable Möblierung, flexible Nutzung, Vorhandensein persönlicher Freiräume und ansprechendes Ambiente verlangt. Das Programm führt aber auch zur wesentlichen Unterscheidung in quantitative und qualitative Regelkreise. Denn natürlich kann ein derartiges Programm „Smart Wohnen“ vornehmlich als Neubau verwirklicht werden, was aber alle damit verbundenen Aufwände, vom Grundstück über Bau bis zur Bauträgerschaft im öffentlichen Interesse, bedingt. Im großen Potential der bestehenden Stadt ist eine derartig direktive Planung schwieriger unterzubringen.

 

Neubau als Antwort auf die Wohnungsfrage?

Als Antwort auf immer knapper werdenden Wohnraum lautet die postwendende Antwort der Stadtväter und Stadtplaner, Immobilienentwickler und Traditionalisten also: Neubau, Neubau, Neubau. Was zweifelsohne vernünftig klingt, hat meistens einen oder mehrere Haken. Durch wen wird wo gebaut und für welche Zielgruppen? Ebenso muss man sich die Frage stellen, welchen Ermessensspielraum bankrotte kommunale Haushalte haben, wenn sie Investoren heranziehen, um Neubauten zu errichten? Die stolze Freie und Hansestadt Hamburg beispielsweise baut neue Häuser und versucht südlich der Elbe im sozio-ökonomisch benachteiligten Stadtteil Wilhelmsburg mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) städtebauliche und wohnungsinfrastrukturelle Akzente zu setzen. Im Kern trat die IBA an, den sozialen und baulichen Niedergang von Wilhelmsburg vorzubeugen und wegweisende architektonische sowie städtebauliche Modelle vorzustellen, um dadurch auch die Immobilienbranche mit ihren Investitionen rückwirkend zur Entwicklung des Stadtteils einzuladen. Die heroische weil soziale Idee verkümmerte seit ihrer Bekanntgabe im Jahr 2007 zur städtebaulichen Randnotiz. Am Ende wurde der Anteil von sozialen und staatlich finanzierten Wohnungen auf eine symbolische Randlage zurechtgestutzt. Jenseits der IBA zeigt sich, dass in Hamburg von den politisch angestrebten 6.000 Neubauwohnungen pro Jahr gerade mal 1.200 Sozialwohnungen im ersten Förderweg errichtet werden. Dieser Umfang ist aber nicht in der Lage, die jährlichen Abgänge von ca. 5.000 Wohnungen pro Jahr aus den Sozialbindungen zu kompensieren.

Das Modell „Neubau“ lässt sich politisch zwar gut vermarkten, einzig, es ist auch anfällig für die am Markt vorherrschenden Dynamiken und Verwertungsinteressen, sofern nicht starke politische Kräfte und Fördersysteme entgegenwirken.

 


Faktencheck alternativer Modelle

Vielerorts spitzt sich der Mangel an verfügbarem und bezahlbarem Wohnraum also aufgrund reaktionsschwachen, uninspirierten sowie ideenlosen kommunalen Verantwortlichkeiten extrem zu. Einmal an Private Equity Fonds und Hedgefonds veräußerte kommunale Wohnbestände lassen sich wohl nur schwer ad hoc durch die Kommune zurückkaufen. Es würde wohl auch zu immensen Gerichtsverfahren kommen, wenn einmal günstig veräußerte Wohnungsbestände nun hochpreisig von den Kommunen zurückgekauft werden müsste, so dass wohl der drängenden Wohnungsfrage kurzfristig nicht gedient wäre. Bleibt einzig der politische Druck, bei der Vergabe von Liegenschaften nicht auf das Meistbieterverfahren zu setzen, sondern qualitative Konzepte, die sozial ausgewogen Belegungen garantieren, endlich anzuerkennen. Freilich, auch dazu braucht es starken politischen von „unten“ wie auch finanziellen Willen der Kommunen und Länder, die nicht überall gleich machbar sind, vielerorts auch gar nicht in Aussicht. Folglich haben sich gerade dort, wo die Kraft der Kommunen nicht ausreichend positiv wirken kann, interessante Alternativen entwickelt.

 

Zwischennutzer zu Eigentümer ermächtigen

Gerade künstlerische Akteure weisen sich in Städten immer wieder als Zwischennutzer aufgelassener Räume und Nischen aus. Entgegen der Zuweisung, dass gerade diese Akteursgruppe Flexibilität und Wandel begrüßt, ja geradezu sucht, und standörtliche Stabilität angeblich verpönt und von sich weist, haben es viele Künstler und Kreative verstanden, ihre symbolisch aufgewerteten Räume längerfristig für sich zu sichern. Exemplarisches Beispiel ist die am 17.7.2007 in Berlin gegründete gemeinnützige GmbH auf dem ehemaligen Rotaprint Gelände. Die ExRotaprint GmbH hatte sich das Ziel gesetzt, die auf diesem Gelände sich vollziehenden Spekulationsspirale des Immobilienmarktes zu unterbrechen. Sie ist mittels Erbbaurecht zur Besitzerin des Gebäudeensembles avanciert. Dabei verantwortet die GmbH alle Aspekte der Projektentwicklung, die Finanzierung, Vermietung und Sanierung des ExRotaprint Geländes.

Für die Marginalienspalte. Das Erbbaurecht (umgangssprachlich auch als Erbpacht verstanden) ist das Recht des Erbbauberechtigten, gegen Zahlung eines regelmäßigen Entgeltes (des sogenannten Erbbauzinses) auf oder unter der Oberfläche eines fremden Grundstücks ein Bauwerk zu errichten oder zu unterhalten.

Im Kern zielen die Initiatoren auf dem ExRotaprint Gelände darauf ab, aufgrund der ausgewiesenen Gemeinnützigkeit den Konflikt über partielles Eigentum und monetären Gewinn zu umgehen und die auf dem Gelände notwendigen Planungen unbehelligt von anderen Partikularinteressen zu entwickeln. Die Gesellschafter der ExRotaprint gGmbH profitieren nicht von den Einnahmen des Geländes und können bei Verkauf ihrer Gesellschaftsanteile keinen Mehrwert realisieren. So entsteht ein Ort, an dem langfristig stabil zu selbst geschaffenen Konditionen gearbeitet werden kann. Somit erzielen die Initiatoren sozialen Mehrwert auf dem ExRotaprint Gelände.

 

Modell Baugruppe oder Baugemeinschaft

Zur Umgehung der Investorenrendite haben sich seit Jahren interessierte Akteure zusammengeschlossen, um als Bauherrengemeinschaft gemeinsam die Belange des Investors zu übernehmen. Eine Bauherrengemeinschaft (auch Baugruppe oder Baugemeinschaft) ist der Zusammenschluss mehrerer privater Bauherren, die gemeinsam - zur Eigennutzung oder Vermietung - Wohnungen, einzelne Mehrfamilienwohnhäuser, Gewerbe- oder Gemeinschaftsräume planen, bauen oder umbauen. Ihr Ziel ist eine frühzeitigere Vorstellung ihrer Interessen bei der finanziellen, standörtlichen, architektonischen und sozialen Entwicklung einer Wohnimmobilie. Durch die zeitliche, ideelle und organisatorische Planungs- und Organisationsleistung der einzelnen Bauherren und –frauen in der Vorplanung und Entwicklungsphase werden einerseits Kosten reduziert und zum anderen Gestaltungsansprüche geltend gemacht.

Die Nutzer können so, im Gegensatz zum Immobilienkauf von einem Bauträger, bereits in der Planungsphase eigene Wünsche mit einbringen, welche am Wohnungsmarkt nicht erhältlich sind. Dennoch werden, im Gegensatz zum individuell erstellten Einfamilienhaus, die Vorteile eines Mehrfamilienwohnhauses genutzt. Auch ist es möglich, Einfluss auf die Zusammensetzung der späteren Hausgemeinschaft zu nehmen.

Für die Marginalienspalte: Das Kompendium „Berlin: Stadtgestaltung und Wohnprojekte in Eigeninitiative“ zeigt Berlin als Stadt der Raumpioniere, als Ort selbstinitiierter Raumaneignung. Nischen und Lücken werden besetzt, vergessene Orte und Bestandsbauten neu bespielt. Durch selbstbestimmtes räumliches Gestalten, Bauen, Wohnen und Arbeiten – sei es in Form von Baugruppen, Genossenschaften, Co-Working-Spaces oder anderen Projektformen – ist in Berlin innerhalb der letzten zehn Jahre eine architektonische Vielfalt und Qualität entstanden wie in kaum einer anderen europäischen Stadt. Diese Beispiele werden in dem Buch SELFMADE CITY (2012) vorgestellt.

Vor allem Personen und Gruppen, die in einer Hausgemeinschaft mit weitgreifenden gemeinschaftlichen Strukturen, wie einem Mehr-Generationen-Haus, bestimmten ökologischen Ausrichtungen leben möchten, können mit einer Bauherrengemeinschaft eine für sie passende Hausgemeinschaft entwickeln.

Die Bauherrengemeinschaft besteht erst ab dem Erwerb des Grundstücks und nur, bis die Baumaßnahme abgeschlossen und abgerechnet ist. Der Betrieb des Gebäudes erfolgt als Wohnungseigentümergemeinschaft oder als Genossenschaft.

Eine gute Idee also, bei der nicht nur diskussions- und verhandlungsbereite Akteure benötigt werden, sondern auch experimentierfreudige Menschen mit großer Toleranz und Belastbarkeit gegenüber dem stetigen Ringen einer heterogenen Gemeinschaft nach dem einen gemeinsamen Nenner. Denn nach wie vor tritt der Vertreter der Bauherrengemeinschaft dem Bauamt gegenüber, das ebenso mit den oftmals extrem aggressiv und professional aufgestellten Investorenvertretern zu ringen haben. Nötig ist bei Neubauvorhaben auch die Verfügbarkeit von Bauland, Baulücken, Baurandlagen oder auch zentralen Lagen. Nur wenige Städte betreiben eine bevorzugende Vergabepolitik. Die ist – im Verbund mit verfügbaren Flächenressourcen – aber nötig, damit Bauherrengemeinschaften real werden. Als kollektives Vorhaben stellen sie adäquater nachhaltige soziale Kohäsion für Stadtquartiere her, als dies rein renditeorientierte Wohnbauvorhaben praktizieren.

 

Modell „Sozialer Kurator“ und Mäzenatentum

In der BRD existiert ein zukünftiges Erbvolumen, das eine Gesellschaft nach Jahren des wirtschaftlichen Wachstums und der Prosperität wohl so noch nie erlebt hat. Dass ererbtes, reichlich verdientes, oder spekulativ erworbenes Vermögen allein nicht glücklich macht, hat in den vergangenen Jahren zu einem enormen Gründungsboom von neuen Stiftungen sowie davon ausgehenden gemeinnützigen Projekten mit oft beträchtlichen Stiftungskapitalien geführt.

Immer wieder gibt es den aus dem Nichts kommenden Mäzen, der nicht nur generell Gutes für die Gesellschaft zu leisten beabsichtigt, sondern sich selbst – nicht nur steuerlich – mitberücksichtigt und in reale Dinge investieren will. Als Sponsor und guter Investor kann er eine große Anschubsumme an notwendigem Kapital für z. B. eine Baugruppe vorstrecken, mit denen diese ihre sozialen Interessen verwirklichen im Stande ist.

Von einem Modell kann man wohl nicht sprechen, eher von einem Glücksfall für die, die auf Menschen treffen, die in ihrer Praxis und mit ihren Ressourcen soziale Verantwortung in einem Wohnbauprojekt verbinden.

Für die Marginalienspalte.
Im Unperfekthaus in Essen bekommen Künstler & Gründer und Gruppen kostenlos Räume, Technik, Bühnen uvm.. Und mitten in diesem 4000qm großen Künstlerdorf treffen sich Privat- und Geschäftsleute zum Essen, für Seminare oder zu Besprechungen. http://www.unperfekthaus.de

 

Verfügbarkeit und Nutzungsoptimierung durch Dynamik am Wohnungsmarkt?

Alternative Modelle können Wegweiser und Innovatoren sein, leistbaren Wohnraum für eine Mehrheit können sie wohl nicht sicherstellen. Leistbarkeit von Wohnraum für Mehrheiten kann nur bei entsprechender Verfügbarkeit von Wohnraum sowie bezahlbarem Grund und Boden erreicht werden. So ist das Mantra nach Neubau, Neubau, Neubau in solchen Städten nicht falsch, wo Zuzug herrscht. Wie sollten die hinter den steigenden Einwohnerzahlen stehenden Menschen und Haushalte auch zu behausen sein, wenn nicht durch steigende Wohnungszahlen? Zu oft aber gilt das Grundgesetz des Marktes von Angebot und Nachfrage in seiner einfachsten Form.

Eine Alternative zum Neubau ist dabei eine generelle Anders- oder Neu-Nutzung des Wohnraums, wenn dafür Grund und Boden verfügbar gemacht werden kann. Die alternativen Modelle haben das aufgezeigt. Gemeint ist aber auch die zeitnahe Suche nach passendem Wohnraum, welcher für den persönlichen Wohnbedarf und das Wohnbedürfnis besser oder ausreichend aber eventuell kostengünstiger ist. Diese Optimierung der Wohnnutzung ist gerade bei zunehmender Mobilität und häufiger Veränderung von Lebensstilen, sozialen Bindungen und bei demografischem Wandel wesentlich. Eine höhere Dynamik am Wohnungsmarkt kann helfen, im Einzelfall durch Veränderung und Anpassung leistbaren Wohnraum zu finden. Bei diesem Regelkreis wird die Verfügbarkeit von Wohnraum nicht nur in baulicher Hinsicht virulent. Grundsatzfragen nach Eigentum oder Miete, nach Finanzierungen bezogen auf Zeiträume und rechtliche Modelle ermöglichen, fördern oder behindern die Suche nach dem geeigneten Wohnraum, der allenfalls wieder verfügbaren Leerstand für andere Nutzungen freimacht. Nicht zuletzt kulturelle und soziale Prägungen spielen hier eine große Rolle, ob das Wohnungseigentum mit langjähriger finanzieller Bindung oder die Miete mit Freiheit zum jederzeitigen Verlassen bevorzugt werden.

So kann die These aufgestellt werden, dass in Städten mit sehr hohem Mietwohnungsanteil und somit Mobilität der Bewohner, wie beispielsweise Wien, die Problematik leistbaren Wohnraums vergleichsweise geringer ist als in Städten mit höherem Eigentumsanteil. Freilich, aktive Steuerungsinstrumente für eine optimierende Dynamik und Flexibilität am Wohnungsmarkt sind kaum bis gar nicht ausgeprägt. Und wenn generell zu wenige Wohnungen vorhanden sind, ist eine Dynamik durch Übersiedlung und Suche der passenden Nutzung schlichtweg nicht möglich. Also ist auch hier die Schlussfolgerung zu ziehen, dass eine ausreichende Anzahl von Wohnungen eine Grundvoraussetzung für höhere Mobilität am Wohnungsmarkt und somit die Chance auf leistbares Wohnen darstellt.

 

Alternative Arrival City - Die gebaute und gewachsene Stadt zum Wohnen

Der Zuzug in Städte, der in Folge die Nachfrage nach Wohnraum und dessen Preise ankurbelt, erzeugt in großen europäischen Städten ein negatives Delta von etlichen Tausenden nicht vorhandenen, aber benötigten Wohnungen. Erschwert wird die Bewältigung dieses Problems durch die Trägheit der Produktion von Wohnraum, welche der Renaissance der Stadt und ihrem plötzlichen Wachstum der letzten Jahre nachhinkt. Auch in einer Stadt wie Wien, die ein ausgeprägtes System von Grundstücksvorsorge und Wohnbauförderung aufrecht hält, wird dieses Faktum einhellig festgestellt. Außerdem tritt dabei zu Tage, dass der gut planbare und schnell umsetzbare Neubau allein diese Lücke nicht auffüllen kann. Die Kosten der damit verbundenen infrastrukturellen Erschließungen von Neubaugebieten, vom öffentlichen Verkehr bis zum Kindergarten, belasten die öffentlichen Budgets an anderer Stelle. Außerdem liegen diese Gebiete in den seltensten Fällen zentrumsnah und widersprechen somit dem Ziel der Stadt der kurzen Wege und dem Wunsch vieler Wohnungssuchender. Eine weitere Möglichkeit neuer Wohnraumschaffung sind innerstädtische Brachen und Konversionsflächen wie aufgelassene Bahnhöfe oder Gewerbegebiete. Diese Flächen bergen den Nachteil, wenn sie überhaupt in einer Stadt vorhanden sind, dass sie nicht auf Knopfdruck zu kaufen sind. Oft stehen sie aufgrund ihrer zentralen Lage im Fokus kommerzieller Projektentwickler, die diese Liegenschaften für alles andere als kostengünstigen Wohnbau verwerten wollen. Und nicht zuletzt sind es die Zuzügler selbst, egal ob mit migrantischem Hintergrund, als Studierende oder Führungskräfte oder als wohlhabende Rückkehrer aus Suburbia, die weder Wohnungsbau im Neubaugürtel noch ein Development am Wasser oder am Park suchen, sondern schlichtweg die pulsierende lebendige Stadt.

So lautet beispielsweise die Prognose in Wien, dass im Verhältnis der größte Anteil des erwarteten Bevölkerungswachstums von geschätzt 300.000 Menschen in den kommenden 20 Jahren im zentralen Bereich der gründerzeitlichen Stadt stattfinden wird. Es ist jene lebendige, dichte Stadt, die Anziehungskraft ausübt und als „Arrival City“ dient, aber de facto keine größeren Neubauflächen aufweist, allenfalls einige wenige versprengte Baulücken. Wo bereits größte Dichte gegeben ist, findet die größte Nachfrage nach Wohnraum statt! Der Nutzungsdruck auf Freiraum, Schrebergärten und öffentlichen (Grün-)Raum wird zusätzlich wachsen. In diesem Lichte ist der Begriff der Gentrifizierung zu relativieren, der nicht zufällig genau in solchen Stadtstrukturen die höchste Konjunktur hat. Wenn dieses Wachstum nicht nur konfliktfrei und verträglich, sondern auch mit leistbarem Wohnraum bewältigt werden soll, braucht es gänzlich andere Strategien für die Schaffung und Verfügbarmachung von Wohnraum. So wird eine Baulandmobilisierung und Freiraummobilisierung der anderen Art notwendig sein, um jede Möglichkeit der Umnutzung und Neunutzung aber auch des bisher un-gedachten und nicht vorgestellten Gebrauchs von Stadt aufzuspüren. Wer die lebendige Stadt vor der Wohnungstür hat, kann anders wohnen, vielleicht auf viel weniger Nutzfläche als bisher, vielleicht mit mehreren Generationen unter einem Dach, vielleicht im leeren Erdgeschoßlokal mit einem kleinen Hinterhof? In Wien beispielsweise wird seit 2012 in Arbeitsgruppen und enger Kooperation von verschiedenen Experten und Vertretern der Immobilienwirtschaft, Verwaltung und Politik an einem „Masterplan Gründerzeit“ gearbeitet, der künftige Leitlinien zu Freiraum und Wohnen und deren Qualitätssicherung und Regelwerke angesichts des steigenden Zuzugs und Drucks erarbeiten soll. So wie neue Ortsentwürfe den öffentlichen Raum suchen und umcodieren, sind neue Wohnentwürfe gefragt, die Wege von der einzelnen Lösung zur Strategie aufzeigen.

 

Vorzimmer Stadt - Das Wohnumfeld als Teil des Privaten

Last but not least birgt dieses Wachstum der Stadt ungeahnte Chancen, die über Wohnbedarf und Wohnbedürfnis des Einzelnen hinausweisen. So passiert nicht nur Stadtentwicklung durch den wiedererweckten Wohnbau, sondern auch Wohnbauförderung durch die Stadt und den öffentlichen Raum. Die Lage des Wohnens in der dicht verbauten Stadt mit allen vorhandenen technischen, sozialen, kulturellen Infrastrukturen ermöglicht Lebensweisen, Arbeiten und Wohnen ohne die unerwünschten sozialen wie ökologischen Nebenwirkungen der Suburbanisierung. Arbeiten und Wohnen als lokal verortete Lebensform wird dabei prototypisch durch Zwischennutzungen und Aneignungen aber auch aus dem Bereich der neuen kreativen Culturepreneure praktiziert und vorgeführt. Diese Initiativen, die vorerst in künstlerischen oder auch wirtschaftlichen Zusammenhängen gesehen wurden, verweisen mehr und mehr auf die eigentlichen Qualitäten dieser Praxis, nämlich den Wert für Lebensqualitäten in einer durchmischten Stadt. Einerseits stellt dies Anforderungen an nutzungsoffene Gebäude und Stadthäuser, aber auch an die Nachhaltigkeit der Stadtstrukturen. Die zentralen Fragen der Ökonomie wie auch der Ökologie werden denn auch am Wohnumfeld und nicht an der Wohnung entschieden. Aufwand für persönliche Mobilität und Verkehrsaufkommen, für Aufschließungen, Ver- und Entsorgung oder der Anteil am Landschaftsverbrauch sind mindestens so relevant wie die Wohnkosten selbst, wenn diesbezüglich auch noch keine Nachvollziehbarkeit, geschweige denn Kostenwahrheit gegeben ist. Beim Widerstreit um leistbaren Wohnraum, der unter dem Druck der Verdichtung der Städte geführt wird, werden diese Aspekte sowohl für die Gemeinschaft wie auch für die Einzelnen zu beachten sein.

 

erschienen in:
Bastian Lange / Gottfried Prasenc / Harald Saiko (Hg.)
Ortsentwürfe _Urbanität im 21. Jahrhundert
Jovis Verlag GmbH 2013

 

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