Perfekte Location - Eine Annäherung_Marc Ries
1.
Es ist hier nicht die Rede vom „perfekten Haus“, „Raum“ oder „Territorium“, sondern von einer „perfekten Location“, einer Stelle also, einem Platz, einer sehr besonderen Lage oder auch Örtlichkeit, der Perfektion zugesprochen wird. Dieser locus wird form- und materialunabhängig gedacht, ist also zuallererst ein Prinzip, das sich in sehr unterschiedlicher Weise konkretisiert, und ist eine ideelle Lage, die sich entlang voneinander abweichenden Parametern verorten lässt, sich wiederfindet in den postmodernen Idyllen des New Urbanisme ebenso wie in den stil- und szenebildenden Projektionen von Zeitgeistmagazinen, in material- und designästhetischen Produkten ebenso wie in den Lebensweltsurrogaten vernetzter Communities.
Dabei wird die im Begriff „perfekt“ angelegte Doppeldeutigkeit für die Programmatik der Untersuchung gezielt genutzt: Das lateinische „perficere“ meint das Vollenden, das Abschließen, das zu einem, guten, Ende bringen, auch im Sinne der „vollendeten Zeit“ des Perfekt, der Vergangenheit (die eine einmalige Handlung bezeichnet, die zwar lange vergangen sein kann, aber in ihren Auswirkungen noch in die Gegenwart hinüber reicht). Die „perfectio“ wiederum zielt auf die Vollkommenheit eines Gegenstandes oder Tatbestands, meint also die, einer normativen Ästhetik folgenden Leistungs- und Bewertungskriterien (entschieden nachklassisch aber eingebürgert). Somit qualifiziert sich die Perfekte Location als zugleich „vollendet“ und „vollkommen“. Die vollendete Location wäre jene, die das neuzeitliche Programm einer totalitären Unterwerfung der Natur unter eine zweite, gänzlich artifizielle Natur des Menschen repräsentiert und abschließt, die vollkommene Location jene, die das zeitgenössische Wohn- und Körpercurriculum einer postmodernen Lebenswelt – wiederum totalitär oder doch ambivalent? – einlöst. Auch beim Film wird von „Location“ als einem ausgewählten, „authentischen“ Drehort gesprochen, einem perfekten Ort also zur Darstellung und Inszenierung von Geschichten (von „Vollendung“ also), der seine Trivialität bzw. Banalität vergessen lässt ob seiner Durchdringung mit narrativer Gewalt, mit einer blendenden stilistisch-„vollkommenen“ Opulenz , oder schlicht wegen seiner referentiellen Lobpreisung einer dennoch filmisch nie einholbaren Außenwirklichkeit.
In dem dieserart besprochenen Wortverständnis manifestiert sich eine sozio-kulturelle Genese von Raum, die zentral an unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungstendenzen gekoppelt ist. Dabei zeichnet sich die Perfekte Location – als zeitgenössischer gesellschaftlicher Raum – durch folgende Komponenten aus: Sie besitzt ein materielles Substrat, wird innerhalb einer gesellschaftlichen Praxis angeeignet und genutzt, wird institutionell und ästhetisch-normativ reguliert und sie generiert ein räumliches Zeichensystem. Entlang der folgende Eigenschaftsbündel soll eine allgemeine Charakteristik der Perfekten Location versucht werden.
2. Die Formalisierung der Arbeits- und Lebenswelten
Standardisierungen und Formalisierungen, die sich in alltäglichen Kommunikationssituationen ebenso feststellen lassen, wie im Produktdesign und an Arbeitsmarktprofilen, werden immer „perfekter“. Die Perfektionierung der Verfahren und Produkte, der Interaktionen und Körper mittels formaler Imperative erreicht absolute Dimensionen, schließt also an und ab mit einer Dynamik, die als Natur- und Körperbeherrschung in die neuzeitliche Wissenschaft, Technik und Lebensführung eingeschrieben ist. Die Perfekte Location, die solcherart entsteht, ist also eine, die stark durch ökonomische, soziale und ästhetische Standardisierungen reglementiert ist. Die gesellschaftliche Praxis wiederum, d.h. die Aneignung und Nutzung der ideellen und idealisierten „Lagen“, inklusive jener des eigenen Körpers, wird also wesentlich bestimmt über formalisierte Gebrauchsweisen, die kaum oder gar nicht an den jeweiligen „Inhalten“ interessiert sind.
Im Zusammenhang mit urbaner Architektur spricht Richard Sennett von einer Standardisierung der städtischen Umwelt durch die „Skin-Architektur“ der New-Economy-Unternehmen. „Die Büroarchitektur flexibler Firmen soll eine physische Umgebung garantieren, die sich jederzeit umgestalten lässt – im Extremfall erscheint das „Büro“ als reines Computerterminal. Damit ein Geschäftsmann in Manila problemlos zehntausend Quadratmeter Büroraum in London kauft oder verkauft, braucht dieser Raum selbst die Uniformität und Transparenz des Geldes. So erklären sich auch die Stilelemente der New-Economy-Gebäude: das Äußere mit Design aufgepeppt, das Innere immer neutraler, in Standardausstattung, beliebig einzurichten... Das ist eine Architektur, deren Formen so neutral, so rein, so kristallklar sind, dass sie gar nicht beanspruchen, irgendetwas auszusagen.“
Mit dieser Entwicklung geht eine Ahistorisierung und Homogenisierung des Lokalen einher. Machen wir noch einen Schritt zurück: Das von John Portman 1977 in Los Angeles realisierte „Bonaventura Hotel“ nimmt bereits vieles von dem vorweg, was heute unter postmoderner Lebenswelt beschrieben wird. Aufgrund seiner Verweigerung, das Gebäude in den städtebaulichen Kontext zu integrieren, vielmehr eine Art „Rauminsel“ auszubilden, bringt das Hotel eine „neue (ästhetische) Kategorie der Abgeschlossenheit“ als „totaler Raum“ zum Ausdruck, die auf das Innere des Hotels abstellt und die Verbindung zum Außen negiert. Frederic Jameson hat dieser baulichen „Logik der Kultur im Spätkapitalismus“ den Namen „Hyper-Raum“ gegeben, ein Raum, in dem die Menschen zunehmend die Fähigkeit verlieren, „den eigenen Standort oder die städtische Totalität, der sie ausgeliefert sind, bewusstseinsmäßig zu verarbeiten und zu lokalisieren“.4 Das perfekte, ästhetische Artefakt „Bonaventura Hotel“ verlangt also eine neue gesellschaftliche Raumpraxis.
Im Privaten wiederum ist die Standardisierung des Konsums auffällig. Ein weltweites Netz an Kettenläden einiger weniger Marken, die in allen Großstädten an gleichartigen Orten die gleichen Waren anbieten, vermitteln so etwas wie die Selbstsicherheit des makellosen Konsumierens: Vertrauen gründet nur mehr in dem logofizierten Bekannten der großen Marken, alles Fremde, Kleine, Unkonventionelle wird geflissentlich übersehen. Aber auch den eigenen „Körperkonsum“ – der Körper als kleinste räumliche Einheit – in den Fitnessstudios gilt es hier zu besprechen.
Die sukzessive Angleichung an – standardisierte, homogenisierte – Idealtypen des Ausdrucks (der Waren, wie der Individuen) verhindert jede Art von, nennen wir es einmal „Unordnung“. Die Erwartung an und mit hochformalisierten Systeme zu kommunizieren und diese zu konsumieren steigt ins Undenkliche. Eine mögliche Antwort auf diese Erwartung findet sich in den „Etüden“ eines „Global-Media-Engineered-Housing“ vor, einer Praxis des Entwerfens und Ausführens über Software, die sich an globalen Standards orientiert, bzw. diese zuallererst mithervorbringt.
3.Individualisierung und Raum
Hinlänglich bekannt und dennoch ein gleich wichtig bleibendes Phänomen und nur scheinbar im Widerspruch zur Formalisierung der Lebenswelten sind die Individualisierungsmanifeste, -zwänge und -anstrengungen, die westliche Kulturen als Reaktion bzw. Aktion (i.S. einer einfachen Ursache/Wirkung-Dynamik) auf sozio-ökonomische Entwicklungen ausbilden. Sich als „perfekter Zeitgenosse“ zu etablieren, sich mit originellen Wünschen und Ideen einzurichten, anzuziehen, zu reisen, Freizeit zu „gestalten“ ist Imperativ narzisstischer Vollkommenheitsphantasien. Jedoch lässt sich über diese quasi kanonisierte Diagnose hinaus vielleicht sogar das genaue Gegenteil, zumindest aber die Pervertierung des Kanons ebenso behaupten: „ Der Narzissmus, dem mit dem Zerfall des Ichs sein libidinöses Objekt entzogen ist, wird ersetzt durch das masochistische Vergnügen, kein „Ich“ mehr zu sein, und über ihrer Ichlosigkeit wacht die heraufziehende Generation so eifersüchtig wie über wenigen ihrer Güter, als einem gemeinsamen und dauernden Besitz.“
Der ideell-religiöse Orientierungsverlust, der die Moderne charakterisiert, wird kompensiert über einen ausgeprägten Produkt-, Organisations- und Körperfetischismus. Ziele werden formuliert von Zeitgeistmagazinen wie Wallpaper, Fernsehserien wie Sex in the City, aber auch in der Inszenierung von Oberflächen, die zumindest suggerieren, dass ihr Benutzer „Teil aller Individuen“ sei. Eingerichtet werden nicht mehr Räume – als stimmige Wohnambiente –, eingerichtet, eingeräumt werden Zitate für Wohnstile. Das Zitat, die Marke, das Logo, sie markieren das Wohnen. Man könnte also von einer „markierten Architektur“ sprechen, die natürlich auch Zugehörigkeit, Distinktion, gar Klassenbewusstsein festlegt. Die Phantasmagorien der Warenwelt, von denen Walter Benjamin sprach, sie sind heute in
Phantasmagorien von Zeichenwelten transformiert. Eigentlich ist dasjenige, was als individuelle Lebensweise entworfen wird, eine für und von sehr vielen praktizierte Formalisierung ihrer Lebensweise. „Framing Societies“ bezeichnet diese Prozesse einer „Rahmung“ privater Lebensbereiche durch unterschiedlichste Techniken der Individualisierung.
Aber nicht nur die inszenierte Privatheit, als vermeintlich individuelle, gilt es zu beobachten, auch die Arbeitsprozesse erfahren eine hohe Individualisierung. Foucault hatte bereits in seiner Analyse der Disziplinargesellschaft des 18. Und 19. Jahrhunderts darauf verwiesen, dass „es die Physik einer beziehungsreichen und vielfältigen Macht“ zu beobachten gilt, die ihre größte Intensität in den Körpern erfährt, die durch räumliche „Beziehungen individualisiert werden“. Die frühkapitalistische Umstrukturierung der Arbeit hatte zur Entwicklung eines neuen Produktionsraums geführt, dem der Manufaktur. In dieser gelang eine hocheffiziente Form der Arbeitsteilung über Parzellierung, Disziplinierung und
Individualisierung. Ein „leerer“, „analytischer“ Raum schuf für die Kontrolle der Besitzer eine Ordnung der Sichtbarkeit, die den einzelnen Arbeiter auf seine Arbeitskraft reduzierte und ihn aus dem handwerklich-familiären Produktionskontext dislozierte. Demgegenüber erwarten heute deshierarchisierte Produktionsprozesse von den einzelnen Arbeiter und Angestellten eine „flexible Arbeitplatzgestaltung“, die aus ihnen ein self-managment-profi insoferne machen, als sie ihrer Entlassung quasi „kreativ“ in einer raschen Suche und Anpassung an neuen Arbeitsbedingungen begegnen müssen. Der Arbeitsraum, also jener Ort, an dem sich der Arbeiter, Angestellte als Teilproduzent identifiziert, wird in einem Ausmaße individualisiert, dass die Anerkennung nur mehr über extrem gesteigerte Leistung und Konkurrenz einstellt.
4. Die fluchträumliche Feier
Vor dem „Elend der Welt“ werden Schutzräume aufgesucht, die der Unübersichtlichkeit, der Komplexheit, möglicherweise auch der Formalisierung und Individualisierung trotzen und scheinbar archaische Werte wieder aktivieren wie Gemeinschaft, Nähe und Vertrauen.
Vielleicht ist das fluchträumliche Verhalten generell als Reaktion auf die Auswirkungen und Überforderungen der Globalisierung zu verstehen. „Alle bauen sich ihr eigenes Schneckenhaus-Leben – in der Hoffnung, der Taifun der Globalisierung möge sie verschonen und nur die Grundlagen und Gewissheiten, auf denen der Nachbar sein Haus errichtet hat, durch die Luft wirbeln.“
Diese Lokationen sind insoferne „perfekte“, als sie Surrogate erzeugen, deren Wärme und Intimität alles übertreffen, was die Realwelt aufzubieten hat. Wir denken hier vor allem an die „Virtual Paradises“, die über netzbasierte Computerspiele erzeugten Communities als Lebensweltsurrogate für „heimatlose“ Zeitgenossen, aber auch an die „New Urbanisme“-Gemeinschaften, die insofern „virtuell“ sind, als sie nur der Möglichkeit nach ein Heilsversprechen anbieten, jedoch in schroffer Gegensätzlichkeit zur Realität verbleiben und in der Gefahr stehen, von dieser stets eingeholt zu werden.
Diese Versuche eines, mit Giddens gesprochen „reembeddings“, also einer Wiedereinbettung des Individuums in kleinräumliche Verhältnisse, sind ebenso bei einem Utopisten wie Gregg Lynn und seinem „embryologischen Haus“ festzustellen, das man ja auch als uterines Glückseligkeitsversprechen begreifen könnte, als „holistisches“ Wunder: „Meine Häuser sollen so harmonisch sein, wie es die klassische Architektur war. Ich will aber nicht deren strenge Ordnung, sondern eher eine bewegliche, interaktive Struktur. In der Harmonie wird Ordnung sichtbar und auch Schönheit.“ Zum anderen kann die Verwendung bestimmter Materialien wie Holzfurnier, farbiges Glas auch als Wiederversinnlichung des Alltags über die Inszenierung von Oberflächen verstanden werden. „New Surfaces“ sollen vor allem vor der Trostlosigkeit und den Gewalteinbrüchen post-urbaner Lebensverhältnisse ablenken und Architekten, die sich in Designaufgaben verlieren, sind oftmals willkommene Begleiterscheinung von „Modernitätsverlust“. Insofern liegt diesen Perfekten Location eine „gnostische“ Tendenz inne.
5.
Nun mag, wer diese Charakteristika von Perfekten Location liest, der gesellschaftskritische Ton überraschen. Tatsächlich stimmt unser Ausgangspunkt überein mit jener Tendenz, den von der Wirtschaft und ihrer Globalisierung geprägten neuen „flexiblen Lebensweisen“ – die ja immer auch eine Dezentralisierung und Delokalisierung des konkreten Aufenthaltsortes des Einzelnen implizieren – eine real gebaute oder eine rein virtuelle Wohn- und Lebensidylle entgegenzustellen. Der entwerfende und ausführende Gestalter (Architekt?) ist zugleich Regisseur, Designer und Programmierer dieser neuen Wohnlandschaften, muss sich also umfassende Kompetenzen zur Bedürfnisbefriedigung „postmoderner“ Individuen aneignen. Perfekte Location sind also zuallererst als Reaktion auf Dynamiken globaler Produktionszusammenhänge und auf Reduktionen erlebbarer Lebenszusammenhänge einzusehen. Sie tauchen unzählig an den unterschiedlichsten Orten auf und ihre soziale Mächtigkeit und Normalität lässt sie zu einem notwendigen und vielversprechenden Gegenstand kultureller Analysen und Diagnosen werden. Niemand kann sich ihrer vielen Antlitze entziehen. Die fünf hier präsentierten Texte markieren einen Anfang in einer noch ausstehenden umfassenden Beschäftigung mit den Perfekten Location unserer Zeit.
Haus der Architektur Graz (Hrsg.)
HDA Dokumente zur Architektur 15/16
HDAX 02
Perfekte Location – Unsere Zeit ist gekommen!...Aber gleich wieder vergangen
Verlag Haus der Architektur Graz 2003